Vor dem French Open ist Rafael Nadal trotz seinen erst knapp 19 Jahren alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Im März 2004 schlägt der spanische Linkshänder in Indian Wells völlig überraschend die Weltnummer 1 Roger Federer, fünf Montae später gewinnt der Teenager im polnischen Sopot sein erstes ATP-Turnier und im Dezember gewinnt er als zweitjüngster Spieler nach Boris Becker eine Einzelpartie in einem Davis-Cup-Final.
Noch besser läuft es Nadal zu Beginn des Jahres 2005. Zwar verliert er im Final von Miami trotz 2:0-Satzführung ein erstes Mal gegen Federer, in der europäischen Sandsaison spielt er die gesamte Konkurrenz aber in Grund und Boden. Nadal gewinnt die Vorbereitungsturniere aufs French Open in Monte Carlo, Barcelona und Rom souverän, reiht auf Sand 17 Siege aneinander – es ist der Start der 81 ungeschlagenen Partien auf seiner Lieblingsunterlage – und arbeitet sich in der Weltrangliste bereits auf Rang 5 vor.
Anders als heutzutage: Von Understatement will im Team Nadal damals noch niemand etwas wissen. Als Onkel Toni gefragt wird, ob er von seinem Schützling erwarte, dass er den Final erreiche, antwortet dieser: «Nein, ich erwarte, dass er gewinnt. Er ist momentan der beste Sandplatzspieler der Welt.» Damit steigert Nadals Trainer die Erwartungen und den Druck, die ohnehin schon riesig sind, ins Unermessliche.
Alle erwarten vom «Wunderkind» nun den ersten Grand-Slam-Sieg, alles dreht sich um den Teenager mit dem ärmellosen T-Shirt, den Dreiviertelhosen, dem Piraten-Bandana und der wilden Mähne. Die Faszination für den Emporkömmling erklärt die Journalistin Carole Bouchard so: «Er war wie ein Hurricane, der über diese zwei Wochen hinwegfegte. Komplett anders als Roger Federer und all die anderen Spieler auf der Tour. Er war wie ein Rockstar an einem Klassik-Konzert.»
Für Nadal sind die Sandplätze von Paris allerdings Neuland. Bei den anderen drei Grand Slams war der Mallorquiner bereits mit 16 und 17 Jahren angetreten. Ausgerechnet Paris verpasst er 2004 wegen eines Ermüdungsbruchs im Knöchel. Statt mit dem Training auszusetzen, setzt er sich damals mitten auf dem Trainingsplatz auf einen Tisch und schlug Bälle, die Coach Onkel Toni ihm zuspielte. «Ich wollte das Gefühl für mein Spiel nicht verlieren», erzählt Rafa später.
Als das Turnier losgeht, hat Nadal keinerlei Probleme mit der Angewöhnung. Auf dem Weg in den Halbfinal gibt der Muskelprotz mit dem riesigen linken Bizeps nur im Achtelfinal gegen Sébastien Grosjean einen Satz ab, gegen Lars Bürgsmüller, Xavier Malisse, Richard Gasquet und Landsmann David Ferrer gibt er sich keine Blösse.
Im Halbfinal wartet an Nadals 19. Geburtstag dann der grösstmögliche Gradmesser: Roger Federer. Doch überraschenderweise ist die Schweizer Weltnummer 1 zu Beginn deutlich nervöser. Zwar spielt Federer viel angriffiger als sein Gegner und stürmt insgesamt 59 Mal ans Netz, doch bringen ihn die läuferischen Qualitäten Nadals immer wieder zum Verzweifeln.
«Ich war am Anfang und am Schluss schlecht. In der Mitte war ich gut, aber das war nicht genug», bilanziert Federer nach der 3:6, 6:4, 4:6, 3:6-Niederlage und wünscht dem Spanier für den Final «viel Glück».
Doch das braucht der Jungspund gar nicht. Gegen den ungesetzten Mariano Puerta, der kurze Zeit später positiv auf Etilefrin getestet und für acht Monate gesperrt wird, verliert Nadal zwar den ersten Satz im Tiebreak, doch dann marschiert er durch. Mit 6:7, 6:3, 6:1 und 7:5 gewinnt der Spanier und ist somit der ersten Spieler seit Mats Wilander, der das French Open gleich bei seiner ersten Teilnahme gewinnt.
Ungläubig lässt er den Schläger und sich selbst auf den Rücken fallen, während der spanische König Juan Carlos auf der Tribüne zur Standing Ovation aufsteht. Nach einer kurzen Umarmung mit dem Staatsoberhaupt, der die Etikette kurz vergisst, nimmt Nadal seine erste «Coupe des Mousquetaires» entgegen.
Für Rafa ist ein Traum in Erfüllung gegangen. «Für mich war das der wichtigste Tag meiner Karriere», sagt er später. «Ich kam nach dem Sieg ins Hotel zurück und sagte mir: ‹Ich habe jetzt das wichtigste Turnier der Welt gewonnen. Von jetzt an werde ich für den Rest meiner Karriere weniger Druck haben.›»
Falls sie es noch nicht getan haben, verlieben sich Presse und Publikum in Paris spätestens jetzt in das «Kind mit der donnernden Linken», den «Tornado, der niemanden schonte» (L'Equipe). Eine «Frisur wie Gabriela Sabatini» und «Beine wie Madonna – nur 30 Zentimeter länger» bescheinigt ihm der «Telegraph». «Kaum 19, hat er das Spiel, den Look und bemerkenswert gute Manieren», beschreibt die «New York Times».
Als Nadal vier Tage später nach Spanien zurückkehrt, feiert ihn die Nation wie einen Volkshelden. Kameras halten jede Regung des Teenies fest, seine Autogramme sind gefragter als die der Fussball-Stars von Real Madrid und dem FC Barcelona. Doch Rafa bleibt cool: «Ich hoffe, das alles verändert mich nicht», sagt er nur. «Ich möchte weiterhin ein 19-jähriger Jugendlicher sein und mein Tennis spielen.»
Das macht Nadal dann auch. Ein Jahr später verteidigt er in Paris seinen French-Open-Titel, im August 2008 wird er erstmals die Weltnummer 1, holt Olympiagold und 2010 komplettiert er mit dem Sieg beim US Open seinen Karriere-Slam. Aus dem schüchternen Muskelprotz ist im Laufe der Zeit einer der besten Tennisspieler aller Zeiten geworden.