Als Anna Kurnikowa 1995 die Tennis-Bühne betrat, waren russische oder osteuropäische Spielerinnen noch nicht stark vertreten in der Weltelite. Und dann kam da diese 14-jährige Blondine, welche sich in den nächsten Jahren zum Tennisschätzchen entwickeln sollte.
Die Schönheit aus Moskau setzte in den ersten Jahren ihrer Karriere durchaus sportliche Ausrufezeichen: Als 16-Jährige wurde sie 1997 in den Halbfinals von Wimbledon erst von Martina Hingis gestoppt, im gleichen Jahr wird sie die Schweizer Weltnummer 1 aber auch noch besiegen, genauso wie Steffi Graf, eine der ganz grossen Nummern jener Zeit.
1998 schaltet Kurnikowa in Miami der Reihe nach vier Top-10-Spielerinnen aus: Monica Seles, Conchita Martinez, Lindsay Davenport und Arantxa Sanchez Vicario können den Teenager nicht stoppen. Erst im Endspiel gehen ihr gegen Venus Williams in einem Dreisätzer die Kräfte aus.
Doch ab Oktober 1998 schlägt sich Kurnikowa, die sich längst in den Top 20 etabliert hat, mit einem ärgerlichen Phänomen herum: Yips. Yips sind plötzliche Muskelzuckungen, wie sie im Tennis und oft auch im Golf vorkommen können. Das Problem liegt auf der Hand: Sie wirft den Ball zum Service hoch, der Muskel zwickt, der Ball landet nicht im Feld. «Service Yips» nennt man das ganz genau.
Aufgrund des Leidens wird sich Kurnikowa ab Oktober 1998 in zehn Partien unglaubliche 182 Doppelfehler notieren lassen müssen. So kann man eigentlich kein Spiel gewinnen. Den Höhepunkt erreicht Yips bei ihr beim Australian Open 1999.
In der 1. Runde setzt sich die Russin 7:6, 7:5 gegen Jill Craybas durch – trotz 23 Doppelfehlern. Den Tiefpunkt beim Aufschlag erreicht Kurnikowa in der 2. Runde gegen die Japanerin Miho Saeki. Unglaubliche 31 Doppelfehler unterlaufen ihr. Das sind pro Aufschlagsspiel durchschnittlich rund zwei Doppelfehler.
Das noch Unglaublichere: Kurnikowa siegt 1:6, 6:4, 10:8. «Ich bin wirklich frustriert darüber, weil jeder zuguckt. Im Training fühle ich mich gut. Da serviere ich normal, es gibt keine Anzeichen von Doppelfehlern. Aber wenn ich zum Wettkampf komme, passiert irgendwas. Ich muss darüber hinwegkommen und versuchen, das zu bekämpfen, wie ich es heute geschafft habe», so Kurnikowa nach ihrem Rekordspiel.
Tatsächlich kriegt sie dies noch einmal hin: In Runde 3 besiegt die Russin Andrea Glass trotz 14 Doppelfehlern. Im Achtelfinal scheitert Kurniowa schliesslich mit 0:6, 4:6 an Mary Pierce. Ihre Turnierbilanz: 73 Doppelfehler in vier Partien.
Kurnikowa verlässt Melbourne trotzdem mit einer Trophäe. Die Russin bildet ein Doppel mit Martina Hingis, gemeinsam gewinnen sie den Titel. Die Schwäche beim Aufschlag macht zum einen Hingis wett, zum anderen spielt Kurnikowa am Netz schlicht genial und ist sehr schnell auf den Beinen.
Experten sehen den «Service Yips» der Tennisspielerin eher als biomechanisches Problem und weniger als eines des Kopfes. Der renommierte Psychologe Dr. Jim Loehr erklärt beispielsweise: »Von Zeit zu Zeit bekommen Leute es mit den Nerven zu tun. Normalerweise sind es dann die schwächsten Schläge, die unter Druck passieren.
Das ist deshalb so, weil die Mechanik so schwach ist, dass sie dir keinen Spielraum gibt, wenn du angespannt bist und dennoch aggressiv spielen möchtest. Die Spieler, die flache Schläge und kaum Spielraum für Fehler haben, machen viele Fehler, wenn sie anfangen, nervös zu werden. Ein Weg, um das zu stoppen, ist, dem Ball mehr Spin zu geben.»
Betroffen vom unsäglichen Handicap sind immer wieder Tennisstars. Elena Dementieva leistete sich einmal 29 Dppelfehler. Maria Scharapowa, Victoria Azarenka, Ana Ivanovic, Petra Kvitova und Sabine Lisicki unterliefen hin und wieder Doppelfehler-Orgien. Bei den Männern litt Guillermo Coria am Syndrom. Nicht selten produzierte er 20 Doppelfehler pro Partie und schaffte dabei auch schon vier in einem Game. Der Argentinier hält den Rekord für Doppelfehler in zwei Sätzen (23). Für ihn läutete «Yips» das Karriereende ein.
Bei Kurnikowa beendet «Yips» die Karriere nicht. Sie wird das Leiden wieder los und serviert bis zum Karriereende 2003 ziemlich normal. Der Rekord von 17 Doppelfehlern in Serie von Maria de Amorim in Wimbledon 1957 bleibt unerreicht.
Einen Einzeltitel wird die Russin aber nie gewinnen, obwohl sie sich jahrelang in den Top 20 bewegt und bis auf Weltranglisten-Position 8 vorrückt. An Chancen mangelte es nicht: Kurnikowa stand in vier Finals, verlor aber allesamt – unter anderem zweimal gegen Doppelpartnerin Hingis. Immerhin feierte sie 16 Doppel-Titel, darunter der Sieg mit Hingis beim Australian Open.
Vergessen wird man Kurnikowa im Tenniszirkus nie. Noch heute gehört die Athletin zu den bekanntesten (ehemaligen) Spielerinnen ihrer Sportart. Und auch im Poker ist sie prominent vertreten. Dort heisst das eigentlich hervorragende Startblatt Ass/König «Anna Kurnikowa». Das ist nicht den Anfangsbuchstaben zu verdanken, sondern eher dem passenden Spruch: «Sieht gut aus, gewinnt aber selten.»