Angela Merkel pflegt gerne folgende Statistik zu zitieren: Europa hat 7 Prozent der Weltbevölkerung, stellt 25 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts her – und verschlingt 50 Prozent der gesamten Sozialkosten. Mit diesen Zahlen will die deutsche Bundeskanzlerin zeigen, dass erstens das soziale Gleichgewicht gestört ist, dass zweitens darunter vor allem die Jungen zu leiden haben und dass es drittens so nicht mehr weiter gehen kann.
Auch der Thinktank Avenir Suisse widmet sich in seiner neuesten Publikation der Frage, wie ein drohender Generationenkrieg verhindert werden kann. «Generationenungerechtigkeit überwinden» heisst das unter der Leitung von Jérôme Cosandey entstandene Werk. Es untersucht die Ursachen des Generationenkonfliktes und zeigt Auswege auf.
Die Wurzeln des Problems liegen in der demografischen Veränderung unserer Gesellschaft. «Aus einer Alterspyramide ist eine Alterspflaume geworden», sagt Cosandey und spricht damit die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur an. Konkret meint er damit die Generation der Menschen, die in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Sie werden Babyboomers genannt, weil ihre Mütter sehr gebärfreudig waren und es deshalb viele davon gibt. Nun gehen sie in Rente und werden zu einer Belastung ihrer Kinder, weil sie selbst viel weniger Nachwuchs gezeugt haben.
Wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft, in der es immer mehr Rentner und bald auch immer mehr pflegebedürftige Hochbetagte und immer weniger Erwerbstätige gibt. Dass diese Rechnung nicht aufgehen kann, liegt auf der Hand. Bereits jetzt ist absehbar, dass die AHV im Jahre 2030 ohne Reformen ein Loch von 50 Milliarden Franken aufweisen wird. Gemäss Cosandey ist dies nur die Spitze des Eisberges. Rechnet man hinzu, was alles auf die Jungen zukommen wird, werden die Zahlen dramatisch. Die sogenannten «impliziten Schulden» belaufen sich heute schon auf rund 175'000 Franken – pro Kind, wohlverstanden.
Cosandey benützt ein drastisches Bild, um das Problem anschaulich zu machen: «Wir sind eine Gesellschaft, die sich einen Bierbauch zugelegt hat – und jetzt rutscht er uns aus den Hosen.» Um wieder unser Normalgewicht zu erreichen, braucht es eine Vielzahl von Massnahmen. Als besonders dringend bezeichnet Cosanday eine bessere Abstimmung zwischen Leistung und Finanzierung im Pflegebereich. Deshalb schlägt Avenir Suisse eine neue, obligatorische Pflegeversicherung vor.
Die Überlegung hinter der Pflegeversicherung lautet wie folgt: Am meisten Kosten verursachen Menschen in den wenigen Jahren vor ihrem Tod. Diese Kosten werden heute durch die Krankenkassenprämien und die Steuern getragen. Bereits heute gerät diese Finanzierung an ihre Grenzen. Sie ist auch ungerecht, weil sie vor allem von jungen Erwerbstätigen getragen werden muss.
Avenir Suisse schwebt eine Pflegeversicherung vor, in die alle Menschen ab dem Alter von 55 Jahren monatlich einen Betrag von 285 Franken einzahlen. Der Betrag resultiert aus einer Mischrechnung von Lebenserwartung und Pflegekosten. Anstatt wie heute den bedürftigen Alten mit Ergänzungsleistungen unter die Arme zu greifen – die vom Steuerzahler berappt werden müssen –, werden diese Kosten von der Pflegeversicherung übernommen. Auch die Krankenkassen werden entlastet. Damit sinkt der Prämiendruck, unter dem vor allem junge Familien leiden.
Wer keine Zuschüsse der Pflegeversicherung in Anspruch nimmt, hat nicht vergebens einbezahlt. Seine Beiträge werden vollumfänglich an seine Erben zurückerstattet. Eine so gestaltete Pflegeversicherung führt somit nicht zu neuer Umverteilung. Im Gegenteil, sie «entlastet Jugendliche, Familien und Staat», wie Cosandey betont.
Rein versicherungstechnisch gesehen spricht viel für eine solche Pflegeversicherung. Ob sie politisch realisierbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Der Haken jedoch liegt in der ökonomischen Logik und lautet wie folgt: Die von Avenir Suisse vorgeschlagene Pflegeversicherung würde zu einem weiteren Ausbau des Zwangssparens in der Schweiz führen.
Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, würden wir heute nicht schon viel zu viel sparen. Unternehmen kaufen ihre Aktien zurück, weil sie genug Geld für ihre Investitionen haben. Pensionskassen führen eine Obergrenze für das Alterskapital der einzelnen Versicherten ein – in der Regel liegt diese Grenze in der Gegend von 800'000 Franken –, weil sie heute schon nicht mehr wissen, wie sie ihr Geld vernünftig anlegen wollen und wie sie die daraus resultierenden Ansprüche dereinst erfüllen können.
Mit anderen Worten: Wir leben – wie es der ehemalige Präsident der US-Notenbank, Ben Bernanke, ausgedrückt hat –, in einer «Sparflut», und das hat paradoxe Konsequenzen: Wir sind im Begriff, uns arm zu sparen. Zu viel Spargeld heisst auch wenig Rendite auf Obligationen und überbewertete Immobilien und Aktien. Eine Pflegeversicherung würde diese Entwicklung noch verstärken. Verkürzt und etwas polemisch ausgedrückt heisst dies: Wir würden mit unseren Beträgen in eine Pflegeversicherung die Mieten und Preise von Wohneigentum in die Höhe treiben und müssten erst noch befürchten, das Geld langfristig bei einem generellen Crash der Finanzmärkte zu verlieren.