Wie tickt eigentlich das Gehirn eines Börsenhändlers?
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Ein ökonomischer Blick unter die Schädeldecke soll erklären, wie Börsianer funktionieren. Die Bestandsaufnahme zeigt: Seine Reflexe aus der Finanzkrise sind intakt.
26.08.2015, 09:1126.08.2015, 10:08
Tommaso Manzin / Aargauer Zeitung
Der Absturz der Börsen in China hat die Aktienmärkte in aller Welt mitgerissen. Die Kommentare am Montag liessen Apokalyptisches erahnen. Von Blutbad, Panik war die Rede, von der nächsten Depression. Am Dienstag beruhigten sich viele Börsen. Katerstimmung und Unsicherheit, wie es weitergeht. Aber kein Weltuntergang.
Spätestens seit der Finanzkrise dürfte sich die Bevölkerung fragen: Wie funktioniert das Gehirn eines Bankers? Im Oberstübchen, das wir vorfanden, zeigte sich – angesichts wilder Fantasien von Bankern in Filmen wie «Wolf of Wallstreet» ein sehr aufgeräumter Sinn für Einfachheit: Kammern aus ökonomischen Signalen, die seine Entscheidungen, die ihm den Durchblick geben. Einige davon haben wir herausgepickt (siehe Textboxen unten im Artikel).
Wissen tut man nur Vergangenes
Es gibt vereinfacht gesagt zwei Kategorien von Signalen: Solche, die sich auf die Zukunft beziehen – meist Stimmungsumfragen oder ökonometrische Modelle: Dazu gehören die Einkaufsmanagerindizes PMI oder Stimmungsbarometer wie der Sentix-Konjunkurindex. Zur zweiten Kategorie gehören Daten, die die tatsächliche Entwicklung nachzeichnen: Zahlen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder aber zur Arbeitslosigkeit.
Doch genauso wie die jüngste Vergangenheit – disruptive Ereignisse beiseitegelassen – einen Anhaltspunkt für die nahe Zukunft liefern sollte, basieren auch die der realen Entwicklung vorlaufenden Indikatoren letztlich auf Daten der Vergangenheit: Statistische Methoden extrapolieren beobachtete Muster ausgehend von den letzten Daten in die Zukunft.
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Und auch die Experten in den Umfragen stützen sich letztlich auf das, was sie schon wissen – es gibt keine Erfahrung aus der Zukunft. Weil Zukunftsindikatoren letztlich nur bestmögliche Schätzungen sind, werden sie oft auch als weiche Daten (Soft Data) bezeichnet. Daten, die erhärtet sind, heissen Hard Data.
Die Wirtschaft über Exporte stimulieren ist der erste Reflex.
Lässt sich die Bedeutung ökonomischer Daten und Indikatoren auch am tatsächlichen Verhalten beobachten? Nehmen wir als Versuchsanlage die jüngsten Turbulenzen in China: Vergangene Woche ist der PMI in China auf den tiefsten Stand seit 2012 gefallen. Nachdem die Börse nach der Veröffentlichung schlechter Exportzahlen und anderer für das Wachstum relevanter Daten bereits davor einen Crash in Raten vollzogen hatte, brach der Leitindex, der Shanghai Composite Index, abermals ein.
Andere Börsenplätze folgten: Nachdem die Angst vor einer Wachstumsverlangsamung in China seit Jahren schwelt, kam es bei unserem Modellbanker zur Reizüberflutung: Verkaufen, nichts wie weg.
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Die Erholung an den Börsen am Dienstag deutet zwar auch auf eine klassische Gegenbewegung hin: Herrscht plötzlich Panik, schiesst die Reaktion an den Börsen meist über das Ziel hinaus. Am Tag danach nutzen Käufer womöglich die übertrieben gesunkenen Kurse zu Käufen: Die Börsen legen wieder etwas zu.
Es gibt aber noch einen anderen Grund für die Beruhigung: Die chinesische Notenbank hatte schon vor zwei Wochen signalisiert, dass auf sie zu zählen ist: sie wertete die Landeswährung Renminbi in drei Schritten um insgesamt rund 3,4 Prozent ab. Damit sollen Exporte und damit das Wachstum gefördert werden.
Seit letztem Sonntag ist es den chinesischen Pensionskassen zudem erlaubt, Aktien zu kaufen. Auch dies soll die Kurse stützen. Die Märkte durften also mehr erwarten.
Schlechte Daten als Kaufsignal
Und siehe da, Hilfe kam: Am Montag senkten die Währungshüter in China die Zinsen für einjährige Kredite um 0,25 Prozentpunkte auf 4,6 Prozent. Sinken die Zinsen, wird Geld billiger, was Investoren anregt, in Aktien zu investieren. Auch die Zentralbank Chinas scheint sich – wie vor ihr jene Japans und der Eurozone – an das Drehbuch zu halten: Die Wirtschaft über Exporte stimulieren ist der erste Reflex.
Nicht nur der aus der Finanzkrise nach 2008 stammende Schutzreflex der Notenbanken, auch die Konditionierungen der Märkte scheinen intakt: Lockere Geldpolitik heisst für sie, dass die Kurse steigen werden. Sechs Jahre weltweite Hausse haben sie überzeugt. Selbst eine zappendustere Konjunktur hinderte die Börsen nicht dran, von Rekord zu Rekord zu eilen – im Gegenteil: Schlechte Neuigkeiten quittierten sie mit Champagnerlaune: «Bad news are good news» – die Perversion bodenständiger Ökonomenlogik.
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So auch jetzt: Die fundamentalen Zweifel an der chinesischen Wachstumsdynamik haben sich nicht verflüchtigt. Doch die meisten Börsen ausserhalb Chinas erholten sich. Der Swiss Market Index (SMI) stieg nach dem Zinsentscheid 3,9 Prozent, der deutsche Leitindex Dax 4,5 Prozent, die US-Börse notierte 2 Prozent fester.
Experten gehen davon aus, dass die chinesische Abwertung und umso mehr die Zinssenkung auch andere Notenbanken zwingen könnte, die Geldschleusen offen zu halten. Die erste Zinserhöhung seit bald 10 Jahren durch die US-Notenbank, die lange für September erwartet wurde, könnte auf nächstes Jahr schlittern. Die Liquiditätsbedingungen blieben also länger als erwartet freundlich für Aktien.
Wie aber geht es weiter? Für immer kann das nicht nur von der Spendierfreude der Notenbanken abhängen. Irgendwann muss auch das «wirkliche» Wachstum, getragen von der Nachfrage der Konsumenten, von den Investitionen der Unternehmen und ihren Gewinnen zurückkehren – Notenbanken können den Aufschwung stimulieren, nicht aber begründen. Dann werden gute Nachrichten wieder gut und schlechte schlecht sein.
Wichtig dabei: Für den echten Banker zählt nur die Zukunft. Was verloren wurde, ist vergessen. Besseren Zeiten nachzutrauern, liegt ihm nicht. Es geht ihm darum, was die Zukunft bringt. Und das Beste, was er hat, um diese abzuschätzen, sind Daten und Indikatoren.
KOF-Konjunkturbarometer Schweiz
Die Umfragen liefern seit 40 Jahren Hinweise zu aktuellen und zukünftigen Konjunkturtendenzen. Dabei lassen sich Engpässe oder Überkapazitäten erkennen. Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich befragt dazu rund 8000 Unternehmen. Die Fragen beinhalten Einschätzungen hinsichtlich der jüngst vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschäftsaktivitäten. Die KOF veröffentlicht ihre Umfragen – je nach Branche – entweder monatlich oder vierteljährlich. Laut der Umfrage vom 5. August 2015 bewerten die Unternehmen in der Schweiz ihre Geschäftslage im Juli gegenüber dem Vormonat als kaum verändert. Damit verharrt der Lageindikator bereits seit Mai auf einem niedrigen Niveau. Das KOF folgert, dass die Schweizer Wirtschaft den Frankenschock noch nicht verdaut hat. Vorerst hat sie sich aber zumindest gefangen.
Chinesischer Einkaufsmanagerindex
Der Einkaufsmanagerindex (Purchasing Managers Index, PMI) gibt die Einschätzung der Chefeinkäufer von Unternehmen darüber wieder, in welche Richtung sich die wirtschaftliche Aktivität in nächster Zukunft entwickelt. Befragt werden sie unter anderem zu Auftragseingang, Produktion, Beschäftigung und Lagerbestand. Dabei geben sie an, ob die Bedingungen besser, gleich oder schlechter sind als im Vormonat. Aus der Zahl positiver und negativer Antworten wird ein Index berechnet, der zwischen 0 und 100 liegt. Ein Wert über 50 bedeutet eine Verbesserung zum Vormonat, Werte darunter eine Verschlechterung. In China gibt es zwei PMI: den vom Mediendienst Caixin erhobenen und einen staatlichen. Der Caixin-PMI notierte vergangene Woche auf 47,1 – deutlich unter der Wachstumsmarke von 50 und so tief wie seit fast sieben Jahren nicht mehr.
BIP-Wachstum Schweiz
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) führt jedes Quartal eine Schätzung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) durch. Andere Länder messen auch ihr BIP. Das BIP ist also eine Art Zustandsbericht. Das Ziel ist es, herauszufinden, wie die Wirtschaft in der Schweiz läuft. Das BIP der Schweiz ging im 1. Quartal 2015 um 0,2 Prozent zurück. Dieses negative Wachstum ist eine Folge der Frankenstärke und der Schwäche in Europa. Die Schweiz exportierte weniger Waren und Dienstleistungen. Die positive Entwicklung der Bruttoanlageinvestitionen und der privaten Konsumausgaben verhinderte laut den Seco-Experten einen stärkeren Rückgang des BIP. Spannend wird die Publikation der Zahlen für das zweite Quartal. Sie werden für morgen Donnerstag erwartet. Gibt es zum zweiten Mal ein Minus-Wachstum, steckt die Schweiz technisch in der Rezession.
Sentix-Konjunkturindex
Der Sentix-Konjunkturindex ist ein konjunktureller Frühindikator, mit dem sich die künftige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts eines Landes abschätzen lässt. Darüber hinaus ist er ein Instrument zum besseren Verständnis der Finanzmärkte. Zur Interpretation der Finanzmarktentwicklungen eignet sich der Sentix-Konjunkturindex deshalb, weil er die Einschätzungen befragter Anleger spiegelt. Er kann damit Hinweise darauf geben, ob das Motiv der Konjunktur zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kurse beeinflusst oder nicht. Steigende Aktienkurse könnten nämlich beispielsweise auch allein Ausdruck übermässiger Liquidität sein, die an die Börsen fliesst und die Preise anheizt – oder eben doch eine Folge davon, dass Investoren in Zukunft mit einer besseren realwirtschaftlichen Dynamik rechnen. Eine solche Einschätzung würde dann ein steigender Konjunktur-Index anzeigen.
Arbeitsmarkts-Daten USA
Das US-Arbeitsministerium veröffentlicht jeden ersten Freitag des Monats die US-Beschäftigtenzahlen für den vergangenen Monat. Daneben werden die Arbeitslosenquote, die durchschnittlichen Stundenlöhne sowie die im Durchschnitt geleistete Wochenarbeitszeit ermittelt. Als grösste Volkswirtschaft der Welt dienen die USA als Massstab für die Entwicklung der Industriestaaten. Anderseits lässt sich aufgrund der Arbeitsmarkt-Daten schlussfolgern, welche weiteren Schritte die Nationalbank, das Fed, unternimmt. Die grosse Frage, die die Finanzwelt beschäftigt, ist, ob das Fed Mitte September erstmals seit 2007 die Leitzinsen wieder anhebt. Am 4. September werden die nächsten Arbeitsmarktdaten publiziert. Sehen die Zahlen gut aus, ist das ein positives Zeichen für die US-Wirtschaft. Auf der anderen Seite heisst es für Anleger, dass das Ende des Aktienbooms bevorstehen könnte.
Volatilitätsindex S&P 500
Der Volatilitätsindex (VIX) wird auch als «Angstindex» bezeichnet. Je stärker die Panik an den Finanzmärkten ist, desto höher steigen die Werte an. Denn er gibt das Risiko an, das in den Wertpapieren steckt – die Standardabweichung. Besonders hoch stieg am Montag der amerikanische VIX-Indez an. Dieser zeigt die Volatilität bei den 500 grössten Firmen in den USA. Er gilt deshalb als Indikator für den gesamten US-Aktienmarkt. Der VIX sprang um 46,45 Prozent an. Im Vergleich zum Vormonat kletterte der VIX-Index um satte 97,96 Prozent. Gestern sank der Index. Auch der VStoxx, der die Volatilität der 50 grössten börsenkotierten Unternehmen der Eurozone abbildet, verbuchte am Montag einen deutlichen Ausschlag. Erstaunlich: Während der Griechenland-Krise in den vergangenen Monaten zeigte sich der VStoxx gelassen.
Die Konsumzurückhaltung in Deutschland wird sich in diesem Winter mutmasslich auch auf Österreich und die Schweiz auswirken. Erste Zeichen deuten auf weniger Gäste in der neuen Wintersaison.