Hitler war erfreut. Sobald seine Ingenieure die London-Kanone fertiggestellt hätten, würde ein vernichtender Geschossregen auf die britische Hauptstadt niedergehen: Alle sechs Sekunden, Tag und Nacht, würde im Zentrum Londons eine 150-Millimeter-Granate detonieren. Der tödliche Hagel, glaubte der «Führer», würde die Briten in kürzester Zeit kriegsmüde machen.
Es war das Jahr 1943, und das «Dritte Reich» benötigte dringend wieder eine militärische Erfolgsmeldung. An der Ostfront wich die Wehrmacht, schwer getroffen von der Niederlage bei Stalingrad, immer weiter zurück; in Nordafrika siegte selbst Rommels Afrikakorps nicht mehr.
Je düsterer die Kriegslage sich präsentierte, desto hoffnungsfroher setzte Hitler auf die «Vergeltungswaffen». Während die V1, der erste Marschflugkörper, und die V2, die erste Grossrakete, heute noch sehr bekannt sind, kennt kaum jemand die V3 – Hitlers Superkanone.
Das unter dem Tarnnamen «Hochdruckpumpe» (HDP) vorangetriebene Geheimprojekt war intern unter einer Vielzahl von Namen bekannt: «Tausendfüssler», «Röchling-Kanone», «fleissiges Lieschen», «Fernzielkanone», «Vielkartuschengeschütz» oder «Englandkanone». Die deutschen Ingenieure unter der Leitung von August Coenders hatten sich viel vorgenommen: Sie wollten nichts weniger als die grösste Kanone der Welt bauen.
Das Funktionsprinzip der V3 unterschied sich von jenem herkömmlicher Geschütze, war aber nicht eigentlich neu. Schon im 19. Jahrhundert hatten amerikanische und französische Ingenieure an Mehrkammergeschützen herumgetüftelt. Im Ersten Weltkrieg hatten die Franzosen eine solche Kanone entwickelt, deren Pläne dann 1940 den Deutschen nach der Besetzung Frankreichs in die Hände fielen.
Das Mehrkammergeschütz war die Antwort auf technische Probleme, die auftraten, wenn man die Reichweite einer Kanone vergrössern wollte. Es bestand aus mehreren hintereinander angeordneten Rohren und mehreren zusätzlichen Pulverkammern, die in regelmässigen Abständen seitlich am Geschützrohr angebracht waren.
Wenn das Projektil nach dem Abschuss durch das Rohr getrieben wurde, zündete die Hitze der Hauptladung jeweils diese seitlichen Pulverladungen, die das Geschoss zusätzlich beschleunigten. Damit sollte die extreme Mündungsgeschwindigkeit von 1500 Meter pro Sekunde erreicht werden, die notwendig war, um London vom Festland aus zu beschiessen.
Erste Schiessversuche mit einer verkürzten und waagrechten Testversion führte die Wehrmacht im April 1943 in der Heeresversuchsanstalt Hillersleben durch. Mitte des Jahres verlagerte sich der Testbetrieb in den Ort Laatziger Ablage bei Misdroy auf der Ostseeinsel Wollin. Dort gab es einen Höhenzug mit der geeigneten Neigung für die Einrichtung des 130 Meter langen und 70 Tonnen schweren Kanonenrohrs.
Vom «Pumpwerk Misdroy», wie die Anlage genannt wurde, konnten Granaten 50 Kilometer weit über kaum bewohntes Gebiet hinweg in die Ostsee verschossen werden. Zur Bedienung dieser einen Kanone war eine Mannschaft von 600 Soldaten erforderlich. Die Tests verliefen freilich nicht zufriedenstellend: Statt der verlangten 1500 m/s Mündungsgeschwindigkeit erreichten die Geschosse – betonbrechende 150-Millimeter-Projektile der Firma Röchling – nur 1100 m/s. Zudem gab es Schwierigkeiten mit Rohrbrüchen.
Obwohl die Kanone noch weit von der Serienreife entfernt war, begann auf Anordnung Hitlers bereits im September 1943 der Bau von Abschussbunkern in Mimoyecques, nur etwa acht Kilometer von der französischen Kanalküste entfernt. Hier, nahe bei der engsten Stelle des Ärmelkanals, war die Distanz nach London am geringsten.
Die Organisation Todt (OT) legte mit Hilfe von Bergleuten und Zwangsarbeitern gewaltige unterirdische Stollen im Kreidegestein an. Die Anlage mit dem Decknamen «Wiese» oder auch «Bauvorhaben 61» reichte 80 Meter – neun Stockwerke – tief in den Boden. Fünf schräge, in einem Winkel von 45 Grad angelegte Schächte zu je fünf Rohren sollten insgesamt 25 Kanonen Platz bieten. Sieben Meter dicke Stahlbeton-Bunkerplatten sollten die Schächte oben gegen Luftangriffe schützen.
Und Luftangriffe kamen bald: Schon im November 1943 hatten britische Aufklärer die Anlage entdeckt. Noch im gleichen Monat erfolgte der erste britische Angriff; im Frühjahr 1944 bombardierten auch die Amerikaner die Anlage mehrmals. Die Deutschen verliessen sich auf die dicke Kreidefelsenschicht über den Stollen und zogen sich bei Angriffen einfach in die unteren Ebenen zurück.
Diese Taktik ging am 6. Juli 1944 nicht mehr auf. An diesem Tag warfen 19 britische Lancaster-Bomber eine neue Art von Bomben über der Anlage von Mimoyecques ab: Drei bunkerbrechende Fliegerbomben des Typs «Tallboy» trafen die Schächte, die noch nicht fertig abgedeckt waren. Entwickelt hatte die 6,4 Meter lange und 5,5 Tonnen schwere Bombe der britische Ingenieur Barnes Wallis, der auch die Rollbomben erfunden hatte, mit denen die Briten deutsche Staumauern knackten. Die riesige Bombe verfügte über einen Verzögerungszünder, der sie zum Einsatz gegen Bunker prädestinierte.
Eine der aus 15'000 Fuss (4600 m) Höhe abgeworfenen Tallboys fiel bis auf den Grund von Schacht 4 und detonierte auf der Schachtsohle. Die Explosion des 2,3 Tonnen schweren Gefechtskopfes löste eine Art lokales Erdbeben aus, das zu Erdverschiebungen und zu einem Wassereinbruch in den unteren Ebenen führte. Etwa 300 Zwangsarbeiter und Soldaten wurden lebendig begraben oder ertranken qualvoll. Noch bevor Mimoyecques einen einzigen Schuss abgefeuert hatte, war die Anlage praktisch zerstört.
Die Deutschen stellten das Projekt in der Folge ein, jedoch ohne dass die alliierten Aufklärer dies bemerkten. Die Amerikaner führten zwei weitere Luftangriffe aus; sie erfolgten im Rahmen der Operation Aphrodite. Unter diesem Decknamen lief der Versuch, schwere Bomber als Drohnen einzusetzen. Dabei wurden B-17-Bomber, vereinzelt auch der Typ B-24, bis zur Kapazitätsgrenze mit Sprengstoff beladen; Geschütztürme und Cockpit entfernte man, dafür wurden Fernsehkameras und eine Funk-Fernsteuerung eingebaut. Die umgebaute Maschine wurde von Piloten gestartet, die dann per Fallschirm absprangen, während ein Begleitflugzeug die Steuerung übernahm.
Ein erster Angriff erfolgte am 4. August, freilich ohne Erfolg. Am 12. August lancierte die US-Luftwaffe einen weiteren Angriff, diesmal mit einer B-24-Drohne. Gestartet wurde der Bomber von Joseph P. Kennedy Jr., dem älteren Bruder des späteren US-Präsidenten, und Wilford John Willy. Noch bevor die beiden abspringen konnten, explodierte die Maschine über Blythburgh in Suffolk, kurz nachdem Kennedy die Explosivladung scharf gemacht hatte. Die Leichen der Crew wurden nie gefunden.
Am 11. September 1944 erreichten kanadische Truppen Mimoyecques. Pioniere sprengten Teile der Bunkeranlage im Mai 1945. Heute gibt es dort ein Museum; die unteren verschütteten Ebenen der Anlage sind ein Friedhof.
Die V3 feuerte zwar keine einzige Granate auf London ab, aber sie kam – in einer nur 58 Meter langen Version – doch noch zum Einsatz: Während der Ardennenoffensive im Dezember 1944 und Januar 1945 feuerten zwei dieser Geschütze von Lampaden bei Trier aus über 180 Granaten auf Luxemburg. Nur etwas über 40 trafen das Stadtgebiet.
Während aus der V1 und der V2 – bei der V1 allerdings mit grosser Verzögerung – moderne Waffensysteme hervorgingen, war dies bei der V3 nicht der Fall. Dennoch schrieb Hitlers «Hochdruckpumpe» – oder genauer gesagt, deren Nachfolger – beinahe noch militärische Geschichte: 1988, noch während des Kriegs gegen den Iran, beauftragte der irakische Diktator Saddam Hussein den kanadischen Ingenieur Gerald Bull mit dem Bau von fünf Superkanonen.
Mit diesem Projekt Babylon wollte Saddam seiner Armee die Fähigkeit verschaffen, Israel zu beschiessen. Bei einem Test im Sommer 1990 wurde jedoch nur eine Reichweite von 229 km erreicht. Zu diesem Zeitpunkt war Bull bereits tot; er war im März in Brüssel erschossen worden. Der Mord wurde nie aufgeklärt; spekuliert wird aber heute noch, der israelische Geheimdienst Mossad könnte hinter dem Mord gesteckt haben. Die irakische Superkanone und die zugehörigen Anlagen wurden nach dem Zweiten Golfkrieg 1991 zerstört.