An den Seeufern des südlichen Balkans, im Grenzgebiet von Albanien, Nordmazedonien und Griechenland, befindet sich die «Wiege der europäischen Landwirtschaft» – hier liegen heute überflutete Reste prähistorischer Siedlungen, in denen die ersten Bauern Europas lebten. Die neue Kulturtechnik der Landwirtschaft, die wohl vor etwa 12'000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond im Nahen Osten entwickelt wurde, war über Westasien nach Europa gelangt.
Hier, am Ohridsee zwischen Albanien und Nordmazedonien, hat ein Forschungsteam um den Unterwasserarchäologen Albert Hafner von der Universität Bern versunkene Baumstämme einer prähistorischen Pfahlbausiedlung ausgegraben. Das Ergebnis der Altersbestimmung dieser Pfähle ist eine kleine archäologische Sensation: Sie stammen aus der Zeit zwischen 5800 und 5900 v. Chr. – und sind damit rund 2000 Jahre älter als die ältesten Pfahlbauten in der Schweiz.
«Damit ist diese Fundstelle nicht nur wichtig für diese Region, sondern für ganz Südosteuropa», erklärt Hafner gegenüber SRF. Er ist einer der führenden Experten für die Pfahlbauten der Schweiz und führt das internationale Grossprojekt EXPLO (siehe Info-Box unten) mit an, das die Anfänge der Landwirtschaft in Südosteuropa untersucht.
Der Ohridsee gilt als einer der ältesten Seen der Erde; er existiert bereits seit 1,36 Millionen Jahren. Der grössere Teil des 350 Quadratkilometer grossen Gewässers liegt in Nordmazedonien, der kleinere westliche Teil gehört zu Albanien. Unter dem heutigen Seegrund liegt eine sogenannte Kulturschicht, die vornehmlich aus organischem Material besteht und bis zu 1,7 Meter mächtig ist. Darin finden sich unter anderem Überreste von geerntetem Getreide, Wildpflanzen und Tieren, die den Archäologen Rückschlüsse auf die Entwicklung der Landwirtschaft erlauben.
Die Ausgrabungen unter Wasser sind freilich anspruchsvoll, wie die Archäologin und Forschungstaucherin Marie-Claire Ries gegenüber SRF betont. Sie koordiniert vor Ort die Taucheinsätze. «Wir haben es hier mit sehr viel Ufervegetation zu tun. Man muss sich bis zum Tauchort durch dichte Schilfbestände durchkämpfen.» Beim Graben unter Wasser werde zudem Sediment aufgewirbelt, das die Sicht behindert. Eine durch Druckluft mit Rohren erzeugte künstliche Unterwasserströmung muss daher die Sedimente wegschwemmen.
Für die prähistorische Archäologie sind solche Fundstellen unter Wasser ein Glücksfall: Die Holzpfähle, aus denen die Fundamente der Siedlungen gebaut wurden, blieben hier erhalten, weil der Mangel an Sauerstoff dafür sorgt, dass das Holz nicht durch Bakterien oder Pilze zersetzt wird. Dieser Umstand ermöglicht es, das Alter der Pfähle dendrochronologisch zu bestimmen, also anhand von Jahrringen.
Genau diese Datierung will das Forschungsteam mit den Pfählen im Ohridsee vornehmen. Das bisher bestimmte Alter von rund 8000 Jahren beruht nämlich auf der Radiokarbondatierung, die relativ unpräzise ist, wie Hafner erklärt. «Wir wollen mit Dendrochronologie, also mithilfe der Jahrringe von Bäumen, das Alter auf die Dekade oder gar auf das Jahr genau bestimmen.»
Die Fundstelle ist nicht die einzige im Uferbereich des Ohridsees: Auch auf der östlichen nordmazedonischen Seite liegen solche prähistorischen Seeufersiedlungen. In der Bucht von Ploča Mičov Grad wurden im Rahmen des EXPLO-Projekts rund 800 Pfähle datiert. Die 2021 in der Fachzeitschrift «Journal of Archaeological Science» präsentierten Ergebnisse belegen, dass der Siedlungsbau dort in verschiedenen Phasen verlief – von der Jungsteinzeit (Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr.) bis in die Bronzezeit (2. Jahrtausend v. Chr.). Zuvor war man davon ausgegangen, dass es sich um eine Siedlung aus der Zeit um 1000 v. Chr. handle.
Die Pfahlbauten wurden von Einheimischen gefunden, als der Wasserstand des Ohridsees zu Beginn der 1970er-Jahre stark absank und die Fundstellen sichtbar machte. Adrian Anastasi vom albanischen Institut für Archäologie in Tirana suchte schliesslich die Zusammenarbeit mit der Universität Bern, wie SRF berichtet. Ihm war bekannt, dass es in der Schweiz zahlreiche gut erforschte Fundstellen von Pfahlbauten gibt.
Tatsächlich sind die Pfahlbauten im Alpenbogen sowie die Fundorte im Balkan weltweit die einzigen Überreste von Siedlungen aus der Jungsteinzeit, die hervorragend erhalten sind. Von den zahlreichen Pfahlbauten im Alpenraum gehören 111 aus den sechs Alpenanrainer-Staaten Schweiz, Österreich, Deutschland, Frankreich, Slowenien und Italien seit 2011 zum Welterbe der UNESCO. 56 davon befinden sich in der Schweiz, verteilt auf 15 Kantone.
Die Feuchtbodensiedlungen im südwestlichen Balkan seien allerdings nicht weniger bedeutend, stellt Hafner fest. Die Situation dort sei mit jener in den Alpen vergleichbar. Im heutigen Albanien, Nordgriechenland und Nordmazedonien haben sich in vielen Seen prähistorische Siedlungsrelikte erhalten. Die Fundstellen im Balkangebiet sind jedoch bis auf wenige Ausnahmen bisher kaum erforscht worden. (dhr)
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