In der bisherigen EM-Qualifikation gab es für die Schweiz Licht und Schatten. Was überwiegt?
Gökhan Inler: Das Positive, ganz klar. Wir hatten einen Fehlstart mit den Niederlagen gegen England und Slowenien – und danach die Kurve doch noch gekriegt. Das kann nur eine starke, gesunde Mannschaft. Wenn wir die EM erreichen, spricht niemand mehr von den Niederlagen zu Beginn.
In den Spielen gegen England war die Schweiz zweimal chancenlos …
… was heisst chancenlos?
Die Erwartungen waren grösser. Nämlich, dass die Lücke zu den Topnationen kleiner wird. Das Gegenteil scheint der Fall.
Wenn die Schweiz gegen England spielt, sind die Engländer Favorit. Dieser Rolle sind sie gerecht geworden. Ich denke, in erster Linie zählt die EM-Qualifikation. Ich gewinne lieber an einer Endrunde gegen einen Grossen als in einem Qualifikationsspiel, das bald verblasst.
Was fehlt der Schweiz im Vergleich zu den Topnationen?
Die Erfahrung ist zentral. Für viele war die WM in Brasilien das erste grosse Turnier. Diese fehlende Routine war augenfällig. Nun sind wir einen Schritt weiter. Die Schweizer Nationalmannschaft ist in Europa, ja sogar auf der ganzen Welt ein Thema. Ich denke, die Schweiz kann mit jedem Team der Welt mithalten – aber wir können auch gegen jede Mannschaft verlieren, wenn nicht alles stimmt.
Sie sind seit gut acht Jahren im Nationalteam. Was hat sich seither verändert?
Ich spüre eine grössere Ruhe auf dem Platz. Eine grössere Selbstsicherheit. Und es sieht jetzt sehr häufig nach Fussball aus.
Noch immer ist die Schweiz in der Offensive sehr von Xherdan Shaqiri abhängig. Teilen Sie den Eindruck?
Nein! Er ist von uns als Mannschaft abhängig. Niemand kann als Einzelner etwas erreichen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Xherdan ist fundamental wichtig für uns – aber er kann das nur sein, wenn das Team ihn trägt.
Auf welcher Position würden Sie ihn aufstellen, wenn Sie Trainer wären?
So, wie wir jetzt spielen, passt es ziemlich gut. Er muss einfach seine Freiheiten haben.
Sprechen wir über Ihre Rolle: Wie wichtig sind Sie für das Schweizer Nationalteam?
Sehr wichtig.
Im Spiel gegen Litauen wechselte Sie Trainer Vladimir Petkovic aus, gegen Slowenien verzichtete er ganz auf Sie. Wie gehen Sie damit um?
Der Trainer und ich hatten ein gutes Gespräch. Er erklärte mir, dass er offensiver spielen will. Darum hat er so entschieden. Ich habe das akzeptiert. Wie ein Profi eben.
Das tönt jetzt ein bisschen gar selbstlos. Waren Sie nicht enttäuscht?
Sicher bin ich enttäuscht! Das ist normal. Was wäre, wenn Sie jetzt plötzlich nicht mehr über die Spiele des Schweizer Nationalteams schreiben dürften?
Ich würde ein Gespräch suchen mit meinem Chef. Und mir überlegen, ob ich noch genüge.
Wissen Sie, was grosse Klasse auszeichnet? Wenn man in so einer Situation als Captain hinsteht und eine Entscheidung des Trainers akzeptieren kann. Es geht um die Mannschaft! Ich könnte jetzt Theater machen, wie das viele vielleicht tun würden. Aber dann wird alles noch schlimmer. Ein Schnellschuss wäre nicht mehr leicht zu korrigieren. Ich möchte das Thema jetzt auch nicht unnötig aufwühlen.
Aber beschäftigt Sie das Thema des Generationenwechsels überhaupt nicht?
Nein, ich bin noch jung. Und ich kann der Schweiz noch sehr vieles bringen.
Haben Sie mit Granit Xhaka einmal über seine Aussage, dass sich Petkovic irgendwann einmal für Sie oder ihn entscheiden müsse, gesprochen?
Nein, bis jetzt nicht. Und ich erachte das auch nicht als nötig. Alles zu seiner Zeit. Der Chef ist der Trainer.
Sie sind ein eher ruhiger Typ, vielleicht nicht der typische Anführer einer Mannschaft. Sind Sie gerne Captain?
Ich liebe es! Es stimmt, ich habe eine etwas andere Art. Ich möchte alle in Entscheidungen mit einbeziehen. Es ist mir wichtig, dass keine Grüppchen entstehen und Probleme sofort im Keim erstickt werden.
Im Sommer sind Sie von Neapel in die Premier League gewechselt zu Leicester City. Wie haben Sie sich eingelebt in England?
Sehr gut. Leicester liegt im Zentrum Englands, es gibt viele Naturgebiete, das gefällt mir. Und auch was das Essen betrifft, habe ich mich nach einigen Anpassungsschwierigkeiten – die Engländer sorgen sich diesbezüglich bekanntlich etwas weniger als die Italiener –, zurechtgefunden. Nun muss ich noch eine Wohnung finden. Derzeit wohne ich mit meiner Freundin noch immer im Hotel. Mein Schäferhund ist darum noch in der Schweiz.
Der Rummel in Leicester ist im Vergleich mit Neapel wohl etwa, wie wenn Sie in Ihrer Heimatstadt Olten einkaufen gehen anstatt an der Oxford Street in London …
In der Tat! Ich kann ruhig durch die Stadt flanieren, das wäre zuvor unmöglich gewesen. Gut, die Italiener erkennen mich auch hier (lacht).
Können Sie die beiden Ligen fussballerisch vergleichen?
In Italien wird mehr Wert gelegt auf Taktik. In England geht alles schneller, das Spiel ist physischer. Es wird darum auch etwas weniger trainiert. Dafür geht es immer voll zur Sache.
Haben Sie Ihre Rolle gefunden? Sie gehören noch nicht zur Stammelf.
Ich erachte das als ganz normal. Ich bin neu im Team – in einem Team, das bis vor kurzem 16 Spiele hintereinander nicht verloren hat! Das ist eine ziemlich gute Bilanz. Ich hatte einige Gespräche mit Trainer Claudio Ranieri, er will mich behutsam integrieren.