Kann ein Land einen IQ haben? Natürlich nicht – aber seine Einwohner schon. Vergleicht man die entsprechenden Durchschnittswerte in den europäischen Ländern, so zeigt sich ein aus Schweizer Sicht erfreuliches Bild: Mit 101 Punkten führen die Einwohner unseres Landes zusammen mit den Isländern die Rangliste an, wie folgende Karte illustriert:
Die Karte beruht auf Vorlagen, die der Linguist und Mathematiker Jakub Marian erstellt und auf seiner Website veröffentlicht hat. Seine Zahlen basieren auf der Arbeit von Richard Lynn und Tatu Vanhanen, insbesondere auf ihrem Buch «Intelligence: A Unifying Construct for the Social Sciences» (2012). Die beiden Wissenschaftler sind freilich umstritten; Kritiker werfen ihnen methodische Fehler vor, die aber vornehmlich die dünne Datenbasis in Schwarzafrika betreffen und weniger ins Gewicht fallen, wenn es um Europa geht.
Lynn und Vanhanen verwendeten für ihre Aufstellung nicht allein die Resultate von IQ-Messungen in den verschiedenen Ländern, sondern glichen diese mit Ergebnissen aus Studien ab, in denen die Prüfungsleistungen von Schülern untersucht wurden (beispielsweise PISA-Studien). Das ist durchaus legitim; PISA-Tests zeigen meistens ähnliche Ergebnisse wie IQ-Tests.
Wenn diese Prüfungsstudien berücksichtigt werden, verändert sich das Bild ein wenig, wie die Karte unten zeigt. Die Schweiz verliert einen Punkt und liegt nun gleichauf mit den Niederlanden und Estland. Der Unterschied sticht jedoch besonders bei einem Land wie Finnland ins Auge, das in den PISA-Tests jeweils sehr gut abschneidet und hier deshalb an der Spitze der Rangliste steht:
Von solchen Einzelheiten abgesehen, zeigen beide Karten das gleiche Bild. Auffällig ist dabei eine starke Korrelation zwischen hoher wirtschaftlicher Prosperität und hohen IQ-Werten. Der Grund dafür könnte in der Tatsache liegen, dass sich wohlhabendere Staaten ein besser ausgestattetes Bildungswesen leisten können. Jedoch: Korrelation bedeutet nicht Kausalität. Ob hier wirklich ein kausaler Zusammenhang besteht – und in welche Richtung er wirkt –, bleibt Spekulation.
Ohnehin sollten die Karten eher als Momentaufnahmen gesehen werden. Während nämlich kaum jemand bezweifeln würde, dass es intelligente und weniger intelligente Menschen gibt, wird die Sache sofort heikel, sobald es um den Intelligenzquotienten von Kollektiven geht – Männer, Frauen, Einwohner eines bestimmten Landes, Angehörige einer bestimmten Ethnie.
Sexisten und Rassisten nutzen solche Zahlen mit Eifer, um ihre Vorurteile zu zementieren und zu propagieren. Sie lassen dabei ausser Acht, dass es sich beim IQ um eine Messgrösse handelt, die mitnichten in Stein gemeisselt ist. So müssen Intelligenztests immer wieder neu geeicht werden, weil sich die gemessenen Werte im Lauf der Zeit erhöhen – ein Phänomen, das unter dem Namen Flynn-Effekt bekannt ist.
Dass der Intelligenzquotient einer Gruppe keine ein für alle Mal festgelegte Grösse ist, zeigt sich eindrücklich an den Werten für Männer und Frauen: Seit es Intelligenztests gibt, lagen die Ergebnisse der Frauen im Schnitt stets unter denen der Männer; zuweilen bis zu fünf Punkte. Mittlerweile jedoch haben die Frauen aufgeholt und sind dabei, die Männer zu überflügeln – ein klares Indiz dafür, dass auch der IQ dem Wandel der Zeit unterliegt.