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Doppelmord in Basel: Mörder tötete im Ausgang von der Psychiatrie erneut

Doppelmörder tötete in Basel erneut – im Ausgang von der Psychiatrie

Raphael M. schlug am gleichen Tatort in Basel zweimal zu. Wie konnte das passieren? Vor dem Prozess kommen brisante Details ans Licht.
16.12.2025, 07:2416.12.2025, 07:24
Andreas Maurer, Nora Hoffmann / ch media

«Zugriff!», schreit jemand am Unteren Rheinweg in Basel. Es ist der 9. August 2024. Die Sonne scheint, Menschen flanieren am Rhein. Plötzlich geht es schnell – Szenen wie aus einem Thriller. Ein Polizist überwältigt einen Mann, ein zweiter fixiert ihn. Dann erklingen Sirenen. Weitere Einsatzkräfte stossen hinzu. So beschreiben Augenzeugen die Verhaftung von Raphael M. Der 32-Jährige steht unter Mordverdacht. Er soll die 75-jährige Frau B. in ihrem Treppenhaus erstochen haben.

Zwei Polizisten verhaften Raphael M. am Unteren Rheinweg in Basel.
Zwei Polizisten verhaften Raphael M. am Unteren Rheinweg in Basel.Bild: Leserbild / chmedia

Rückblende: Die Polizei findet die Leiche am 8. August im Wohnblock am Nasenweg im Basler Breite-Quartier und sucht 24 Stunden lang nach dem Verdächtigen. Die Staatsanwaltschaft publiziert ein Fahndungsbild. Stundenlang fahren in Grossteilen der Stadt keine Trams und Busse mehr. Ein Passant erkennt Raphael M. schliesslich und informiert die Polizei.

Das Fahndungsbild: Die Staatsanwaltschaft publizierte die unverpixelte Version.
Das Fahndungsbild: Die Staatsanwaltschaft publizierte die unverpixelte Version.Bild: zvg / chmedia

Kaum breitet sich Erleichterung über die Festnahme aus, schlägt sie in Entsetzen um. Denn Raphael M. ist mutmasslich ein Wiederholungstäter – auf unbegleitetem Ausgang aus der Psychiatrie. Das Schweizer Fernsehen strahlt eine «Club»-Debatte aus: Was ist schiefgelaufen?

In der Psychiatrie besitzt er einen Schlüssel zum Tatort

Zehn Jahre zuvor brachte Raphael M. am gleichen Tatort – im Haus, in dem sein Vater wohnt – zwei Menschen um und verletzte einen weiteren. Das Basler Strafgericht verurteilte ihn 2015 wegen zwei Morden und eines Versuchs, stufte ihn als schuldunfähig ein und ordnete eine stationäre Massnahme an.

Bis zum verhängnisvollen Ausgang am 8. August 2024 sitzt er in der Basler Universitätspsychiatrie. Dort verfügt er über einen Schlüssel für die Wohnung des Vaters. In der Küche holt er sich ein Fleischermesser und sticht im Treppenhaus zu. Am Tag danach gesteht er in einer Einvernahme: «Ich habe sie getötet.»

Der Tatort am 8. August 2024: Die Polizei setzte eine Sonderkommission ein.
Der Tatort am 8. August 2024: Die Polizei setzte eine Sonderkommission ein.Bild: Kenneth Nars

Ab Mittwoch steht Raphael M. vor dem Basler Strafgericht. Der Prozess ist auf drei Tage angesetzt. Die Anklage lautet auf Mord. Der Gerichtspsychiater Elmar Habermeyer stuft ihn wieder als schuldunfähig ein und schlägt eine Verwahrung vor. Dieser Zeitung liegt das psychiatrische Gutachten vor, das einen Einblick in den Wahnsinn von Raphael M. gibt.

Mit Kiffen und Gamen stürzt Raphael M. ab

Sein Vater stammt aus Frankreich, die Mutter aus der Schweiz. Die Eltern trennen sich, als er vier Jahre alt ist. Raphael wächst mehrheitlich bei seiner Mutter auf, bei Konflikten geht er zum Vater.

Nach einer unauffälligen schulischen Laufbahn hat Raphael M. mit 14 Jahren einen Motivationsknick. Er beginnt zu kiffen, fliegt von der Schule, absolviert ein Brückenangebot, aber findet keine Lehrstelle. Er wollte Koch werden wie sein Vater.

M. findet zwar eine geschützte Arbeitsstelle. Doch sie gefällt ihm nicht. Acht Stunden am Tag arbeiten für 400 Franken pro Monat – das lohnt sich aus seiner Sicht nicht. Er kapselt sich ab. Sein Alltag dreht sich nur noch um Cannabis und Computerspiele wie «World of Warcraft».

Miguel Laboy rolls a joint Friday, Nov. 14, 2025, in Brookline, Mass. (AP Photo/Robert F. Bukaty)
Cannabis Use Disorder Users
Sein Alltag dreht sich um den Cannabis-Konsum und das Gamen. (Symbolbild)Bild: keystone

Als er 17 Jahre alt ist, kommt es zu einer Abklärung durch die Abteilung für Jugendschutz, weil die Justiz wegen Betäubungsmitteldelikten gegen ihn ermittelt. Ein Gutachten beschreibt ihn als comichaft, er mache unpassende Faxen und rede wirr. Diagnose: paranoide Schizophrenie. Doch die Familie akzeptiert diese nicht. Der Sohn setzt seinen Willen mit Gewalt durch. Er schleift seine Mutter an den Haaren über den Boden. Auch gegenüber dem Vater wird er aggressiv, wenn dieser ihn zu einer Behandlung bewegen will. Mit 18 wird M. IV-Rentner.

Heute ist Raphael M. fast 100 Kilogramm schwer. In einer Befragung beobachtet der Psychiater ein leichtes Zittern. «Ich sehe Dinge, die kein anderer sieht», sagt der Patient. Er spricht von einer anderen Dimension. «Die Leute, die ich sehe, haben mir Angst gemacht», sagt er zum Gutachter. Das sind Heilige und Fantasy-Figuren: Batman, Spiderman, Aladin, Jesus, Buddha. Diese Personen wollten ihn prüfen, sagt er. Wenn er eine «gute Tat» vollbringe, gehöre er zu ihnen, sonst komme er in die Hölle. Immer wieder kommt in den Befragungen sein religiöser Wahn zum Vorschein, in seinen Notizen finden sich Gebete.

Seine Visionen würden ihm mit Augenfarben signalisieren, was er tun müsse. Grün und weiss stehe für glücklich, rot und schwarz für wütend, blau für Informationen. Bei seiner ersten Tat habe er die Signale falsch gedeutet: «Ich habe die falsche Frau getötet.» Diese hätte ihm – gemäss seinem Wahn – eigentlich nur Informationen über Frau B. geben sollen, die er nun getötet habe. «Hätte ich sie schon vor zehn Jahren getötet, wäre es eine gute Tat gewesen und es hätte keine unschuldigen Opfer gegeben.»

Warum übersehen Therapeuten die Wahnwelt?

Raphael M. glaubte, die Visionen seien real und erkannte sie nicht als Symptome seiner Schizophrenie. Er hielt sie bis zur zweiten Tat geheim, um seine Ausgänge nicht zu riskieren und um die ihm real erscheinenden Dämonen nicht zu verärgern.

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In den Tagen vor der Tat habe sich Raphael M. unauffällig verhalten. (Symbolbild)Bild: KEYSTONE

In den Tagen und Wochen vor dem 8. August 2024 verhält sich Raphael M. unauffällig. Er spielt Poker mit einer Patientengruppe und wirkt gemäss einem Protokoll entspannt. Am Vortag der Tat spricht er mit seinem Bezugspfleger über ein Heavy-Metal-Festival, das dieser soeben besucht hat. Ihm erzählt er, dass er am nächsten Tag seinen Bruder treffe. Dabei soll er spätestens dann die Tat geplant haben. Dem Bruder sagte er ab. Psychiater Habermeyer sieht «keine Anhaltspunkte für ein therapeutisches Fehlverhalten».

Psychiater Frank Urbaniok kritisiert in einem Untersuchungsbericht im Auftrag der Basler Regierung, dass die Psychiatrie nach der ersten Tat den Deliktmechanismus nicht aufgearbeitet habe – die vollständige psychologische Erklärung der Tat. Er bezeichnet dies als «Versäumnis». Deshalb habe die Psychiatrie die Risikorelevanz des Tatorts nicht erkannt. Doch gemessen an den üblichen Standards handle es sich «nicht um ein erhebliches fachliches Fehlverhalten».

Die Staatsanwaltschaft glaubt, das Geheimnis des Täters nun entschlüsselt zu haben. In der Anklageschrift beschreibt sie das Motiv mit seinem Wahnsystem.

Tochter des Opfers kritisiert die Aufarbeitung der Tat

Eine Tochter der getöteten Frau B. kritisiert auf Anfrage jedoch, dass die Staatsanwaltschaft und der Gerichtsgutachter die Erzählung des mutmasslichen Mörders einfach glaubten. Es sei nicht plausibel, dass Raphael M. 2014 «die falsche Frau» umbrachte und schon damals eigentlich ihre Mutter töten wollte.

Treppenhaus
Vor der Tat von 2024 hatte der Vater von Raphael M. wieder einen Streit mit dem späteren Mordopfer. (Symbolbild)Bild: shutterstock

Vor der Tat von 2014 hatte der Vater von Raphael M. nämlich einen Streit mit dem damaligen Mordopfer um die Waschküche. Diese Frau wohnte in der benachbarten Gebäudeeinheit, die über den Keller verbunden war. Raphael M. erstach diese Frau im Treppenhaus des Nebenhauses. Er habe den Tatort bewusst aufgesucht – das sei kein Zufall gewesen.

Die Tochter telefonierte oft mit ihrer Mutter. «Sie erzählte mir, dass sie Raphael nach dem Doppelmord mehrmals in ihrem Treppenhaus antraf. Die Begegnungen waren ihr unheimlich.» Einmal habe er sie gefragt: «Hast du Angst vor mir?» Sie müsse keine Angst haben. Er hätte also mehrmals die Gelegenheit gehabt, ihr etwas anzutun.

Vor der Tat von 2024 hatte der Vater von Raphael M. wieder einen Streit mit dem späteren Mordopfer. Er wollte das Kellerabteil von Frau B. übernehmen, weil er mehr Platz brauchte. Sie war bekannt für ihre Gutmütigkeit. Doch sie lehnte ab, weil sie es selbst benötigte.

Am 6. August 2024 feierte Frau B. ihren 75. Geburtstag. Als ihre Tochter sie anrief, war sie gerade im Keller, um Sachen aus ihrer Wohnung darin zu deponieren. Der Vater von Raphael M. hatte ihr vorgeworfen, dass sie den Platz nicht benötige. Diesen Eindruck korrigierte sie nun.

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Die Mutter der Ermordeten feierte wenige Tage zuvor noch ihren 75. Geburtstag. (Symbolbild)Bild: shutterstock

Zwei Tage später kam Frau B. von einem Einkauf zurück. Sie hatte einen Gehstock, wegen Knieproblemen. Vor dem Haus setzte sie sich gemäss einer Nachbarin auf eine Mauer, um sich auszuruhen. Dann begab sie sich ins Treppenhaus. Dort stach Raphael M. zu.

Die Tochter wundert sich, dass die Staatsanwaltschaft den Nachbarschaftskonflikt in der Anklageschrift nicht erwähnt. Und sie fordert die Universitätspsychiatrie auf, mehr Verantwortung zu übernehmen: «Es war falsch, dass Raphael M. auf einem Ausgang alleine an den Tatort zurückkehren durfte und sogar einen Schlüssel für das Haus hatte.»

Am Mittwoch steht die Tochter zum ersten Mal dem Mann gegenüber, der ihre Mutter getötet hat. Sie hofft, dass er nie mehr freikommt: «Sonst könnte er in zehn oder zwanzig Jahren wieder zuschlagen.»

Letzte Chance: eine umstrittene Elektrotherapie

Die Staatsanwaltschaft hat Vater und Sohn zum Nachbarschaftsstreit befragt. Raphael M. verweigerte die Aussage. Der Vater mass diesem keine Bedeutung zu.

Das Gericht wird nun entscheiden, welche Massnahme Raphael M. erhält. Psychiater Habermeyer stuft ihn als therapieresistent, aber nicht untherapierbar ein. Eine letzte Chance könne eine Elektrokrampftherapie sein, früher bekannt als Elektroschocktherapie. Die Wirksamkeit ist umstritten, das Risiko für Nebenwirkungen erheblich.

Habermeyer schlägt die Verwahrung und gleichzeitig eine stationäre Massnahme vor, obwohl sich diese laut Bundesgericht gegenseitig ausschliessen. Der Psychiater prognostiziert: «Es ist fraglich, ob Lockerungen je wieder in Betracht kommen.» (aargauerzeitung.ch)

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Vecchio Trombone
16.12.2025 07:43registriert Juni 2024
… Der Psychiater prognostiziert: «Es ist fraglich, ob Lockerungen je wieder in Betracht kommen.» …

Mit allem Respekt für den Facharzt aber wie kann man so etwas auch nur ansatzweise Lockerungen in Erwägung ziehen. Das ist ein Hohn gegenüber den Angehörigen der Opfer.

Und wir müssen aus meiner laienhaften Sicht mit dem Begriff „Schuldunfähigkeit“ sorgfältiger umgehen. Es kann nicht sein, dass man den Psychiatern etwas vorspielen kann und dann eine Belohnung bekommt.
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R. Klärer
16.12.2025 08:30registriert Oktober 2017
Der Schlüsselsatz des Artikels ist für mich: "Raphael M. glaubte, die Visionen seien real (...). Er hielt sie bis zur zweiten Tat geheim, um seine Ausgänge nicht zu riskieren"

So einfach ist es also, diesen Leuten im Vollzug etwas vorzuspielen. Da kommen mir andere, möglw. noch intelligentere Schwerverbrecher in den Sinn, die da mit manchen Personen leichtes Spiel haben dürften. Schrecklich. Naivität kostet Menschenleben.
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Colibri
16.12.2025 07:59registriert Februar 2017
Für mich absolut unverständlich. Der Fokus in solchen Fällen und nach solchen Taten muss viel mehr auf dem Schutz der Gesellschaft liegen. Gefühlt alle paar Jahre müssen wir von ähnlichen Wiederholungstaten im Freigang oder nach Freilassung lesen. Nur wer zu 99% sauber ist, soll die Chance haben raus zu kommen. Nach dem Töten von Unschuldigen notabene. Nicht wie heute, wo es 99% Rückfallgefahr benötigt, damit nicht jeder noch so grosse Aufwand für den Täter betrieben wird.
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