Der Gletscherpfarrer von Grindelwald
Geboren wurde Gottfried Strasser am 12. März 1854 in Lauenen bei Gstaad. Sein Vater Johannes war Pfarrer und verheiratet mit Emilie Katharina Ludwig, Tochter des Berner Münster-Pfarrers Emanuel Ludwig. Bereits 1855 zog die Familie nach Langnau im Emmental, wo Gottfried mit zwei Schwestern und fünf Brüdern in einem lebhaften Pfarrhaus aufwuchs. Es war eine Zeit des Wandels: Der zehnjährige Gottfried erlebte die Eröffnung der Bahnlinie Bern–Langnau und somit die Ablösung der Kutschen durch die «Dampfrösser». Auch die Einquartierung von rund 500 Soldaten der Bourbaki-Armee in Langnau im Jahr 1871 prägte ihn nachhaltig.
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Schon früh zeigte sich Strassers dichterisches Talent. Während seiner Gymnasialzeit entstanden zahlreiche, meist humorvolle Texte, die er in seinem Poesiealbum festhielt. 1873 begann er das Theologiestudium in Bern, ergänzt durch Studienaufenthalte in Deutschland. Am 23. Februar 1879 wurde er, ohne eigene Bewerbung, zum Pfarrer von Grindelwald gewählt, auf Empfehlung und mit einstimmiger Zustimmung der Kirchgemeinde.
Die Nähe zu den mächtigen Gletschern verlieh dem Dorf Grindelwald im Berner Oberland den Beinamen «Gletscherdorf». Dort fand Strasser rasch Anschluss und bald kannte man ihn weit herum unter dem Namen «Gletscherpfarrer». Als begeisterter Berggänger nutzte er die Nähe zur alpinen Welt für zahlreiche Touren, oft begleitet von einheimischen Bergführern.
Seine Leidenschaft für die Berge führte ihn in den Zentralvorstand des Schweizer Alpen-Clubs (SAC), später wurde er Sekretär der Sektion Grindelwald und Präsident der Prüfungskommission für Bergführerkurse. Bei einem SAC-Festanlass lernte er Elise Anna Rüegg aus dem Zürcher Oberland kennen, die er 1881 heiratete. Gemeinsam hatten sie acht Kinder, vier Töchter und vier Söhne.
Strasser war kein Pfarrer, der sich ins Studierzimmer zurückzog. Er lebte mit den Menschen, engagierte sich in verschiedenen Vereinen und setzte sich besonders für Kinder und das Schulwesen ein. Als Schulpräsident gründete er eine Schulsparkasse, um den Kindern eine sinnvolle Geldanlage zu ermöglichen. Auf seine Initiative entstand später das Sonderschulheim Sunneschyn in Steffisburg für Kinder mit Lern- und geistigen Behinderungen. Seine Fähigkeiten als Seelsorger und Prediger stellte er auch der Schweizer Armee zur Verfügung. Obwohl er als dienstuntauglich eingestuft war, ernannte ihn der Bundesrat 1883 zum Feldprediger des 12. Berner Oberländer Regiments.
Zur Zeit seines Wirkens wandelte sich Grindelwald gerade vom armen Bergdorf zum florierenden Kurort. Strasser erkannte die Chancen, die der Tourismus für die Einheimischen in Form von wertvollen Verdienstmöglichkeiten brachte. Sei es als Träger, Bergführer oder als Angestellte in Hotels, die Gästeschar benötigte viele Arbeitskräfte, insbesondere, als Grindelwald sich als erster Kurort im Berner Oberland auch dem Winterbetrieb öffnete. Grundlage dazu war der Bau einer Eisenbahn in das Tal. So war Strasser auch eine treibende Kraft bei der Erstellung der Berner Oberland-Bahn (BOB) von Interlaken nach Grindelwald und Lauterbrunnen, die am 1. Juli 1890 eröffnet wurde.
Dem Projekt des Unternehmers Adolf Guyer Zeller mit einer Bahn auf die Jungfrau stand Strasser ebenfalls positiv gegenüber und 1892 verfasste er sogar einen Reiseführer für das Berner Oberland. Doch ganz unkritisch stand Pfarrer Strasser der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine regelrechte Tourismus-Flut ausartenden Entwicklung dann doch nicht gegenüber. Den Hotelbau-Boom prangerte er in Gedichtform an:
Dazu kamen die Opfer, die der aufkommende Alpinismus forderte. Viele einheimische Bergführer, die mit Gästen auf Touren waren, verloren ihr Leben in Lawinen, bei Steinschlägen und Abstürzen und wurden durch Strasser, in seiner Funktion als Pfarrer, zu Grabe getragen. Zur Unterstützung der Hinterbliebenen initiierte Strasser die Gründung einer Bergführerversicherung und war massgeblich an der Entstehung des Bergführervereins Grindelwald beteiligt.
Eine besondere Bewährungsprobe war der verheerende Dorfbrand vom 18. August 1892. Angetrieben von einem starken Föhnsturm erfassten die Flammen über 100 Gebäude und rund 400 Personen wurden obdachlos. Drei Tage später sprach der tief erschütterte Pfarrer zu seiner Gemeinde:
Strasser handelte rasch. Er verfasste einen Spendenaufruf, übernahm den Vorsitz der neu gegründeten Brandkommission, organisierte den Aufbau einer zeitgemässen Feuerwehr mit entsprechender Ausrüstung und lancierte den Bau eines Hydrantennetzes. Dabei wirkte er nicht nur administrativ in der Kommission mit, sondern auch aktiv als Vize-Brandmeister bei der Truppe.
Neben seinem sozialen Engagement war Strasser auch ein produktiver Schriftsteller. Seine Gedichte, Festschriften, Zeitungsartikel, Broschüren und Liedtexte, fanden weit über Grindelwald hinaus Beachtung. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Komponisten Johann Rudolf Krenger schuf er das «Grindelwaldlied» und die inoffizielle Hymne des Emmentals «Dr Trueberbueb».
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Sein Theaterstück «Bärgdorf» wurde 1898 zur Eröffnung des Landesmuseums in Zürich aufgeführt und brachte ihm nationale Beachtung ein. Strasser pflegte literarische Kontakte, unter anderem zum Publizisten Peter Rosegger, zum Mundartschriftsteller Rudolf von Tavel und zu Johanna Spyri, der Schöpferin der «Heidi»-Romane, die ihn 1898 in Grindelwald besuchte.
Ganz gleich, ob es um den Gesangsverein, die Einführung der Dorfbeleuchtung, die Gründung des Samaritervereins oder um den Betrieb einer Bibliothek ging, in den Dokumenten aus jener Zeit taucht immer wieder ein Name auf, sei es als Initiator, Sekretär oder Präsident: Pfarrer Gottfried Strasser.
Im Frühjahr 1911 erkrankte Strasser schwer an einem Herzleiden, von dem er sich nicht mehr erholte. Am 9. April 1912 verstarb er im Alter von 58 Jahren in seinem geliebten Grindelwald «den Gletschren by». Sein Wirken prägte die Region auf einzigartige Weise und hinterliess ein bleibendes Vermächtnis.
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