Im steten Lauf der Zeit stolpert man immer wieder über Daten, die hängen bleiben und deswegen «historisch» genannt werden. So ziemlich jeder Mensch weiss, was am 11. September 2001 geschehen ist. Selbst die beschauliche Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten einige denkwürdige Tage erlebt, die das Land erschütterten, etwa den 6. Dezember 1992 (EWR-Nein), 2. Oktober 2001 (Swissair-Grounding) oder 9. Februar 2014 (Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative).
Der 15. Januar 2015 könnte als ähnlich symbolhaftes Datum in die Geschichte eingehen. An diesem Tag hob das Direktorium der Nationalbank aus heiterem Himmel den Mindestkurs von 1.20 Franken zum Euro auf.
Auf einen Schlag verteuerte sich der Franken gegenüber der Währung unseres wichtigsten Handelspartners um rund 15 Prozent. Die erhoffte Abschwächung ist bislang ausgeblieben, auch weil die Lage in der Eurozone wegen der Griechenland-Krise labil bleibt.
Wie nervös die Schweizer Wirtschaft angesichts dieser Verschlechterung ihrer Konkurrenzfähigkeit ist, zeigt eine von der Nationalbank selbst erstellte Umfrage unter Firmenvertretern. 65 Prozent der befragten Firmen sind demnach von der Aufhebung des Mindestkurses negativ betroffen, 30 Prozent sogar stark negativ. Keine Woche vergeht ohne Stellenabbau oder andere unerfreuliche Botschaften, wie die geplante Schliessung des Hotels Schweizerhof in Vulpera (GR).
Der Mindestkurs war eine fragwürdige Massnahme, und vielleicht hatte die Nationalbank keine andere Wahl, als sie ihn abschaffte. Nicht bestreiten lässt sich aber, dass die Schweiz sich damit quasi durch eigenes Verschulden in einen Zustand der Unsicherheit versetzt hat.
Ähnliches lässt sich über den 9. Februar 2014 sagen: Seit dem Ja zur Zuwanderungsinitiative ist es unsicher, ob die Schweiz den holprigen bilateralen Weg weiter beschreiten kann.
Die Politik verhält sich angesichts dieser doppelten Unsicherheit merkwürdig passiv. Erklären lässt sich dies mit den nationalen Wahlen im Oktober. Hans Hess, Präsident des Industrieverbands Swissmem, äusserte sich am Donnerstag verärgert darüber, dass die Politik die Frage der bilateralen Verhandlungen im Vorfeld der Wahlen ignoriere und totschweige. Der Ständerat wiederum erklärte sich in der Sommersession gegenüber der Frankenstärke für weitgehend ohnmächtig.
Die Parteien üben sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. SVP-Präsident Toni Brunner attackierte in der «Schweiz am Sonntag» FDP und CVP. Drei Monate nach dem «Schulterschluss» zeige sich, dass die beiden Parteien nicht bereit seien, einschneidende Massnahmen für den Standort Schweiz konsequent umzusetzen.
Dabei ist die SVP selber ein Muster an Inkonsequenz. Wenn es um ihre «Hätschelkinder» Landwirtschaft und Militär geht, vergisst sie die Sparvorsätze. In der Sommersession schanzte sie den Bauern neue «Geschenke» zu, und sie beharrte auf mindestens fünf Milliarden Franken pro Jahr für die Armee.
Eine Strategie zeichnet sich im Hinblick auf die Wahlen ab: Die anderen Parteien wollen das Erfolgsrezept wiederholen, mit dem sie 2011 der SVP die erste Niederlage seit langem beschert haben. Sie lassen sie thematisch auflaufen und verweigern ihr Listenverbindungen, worüber sich Toni Brunner im Interview entsprechend enervierte: «Die FDP denkt nur an sich selbst.» Tatsächlich haben sich die Freisinnigen nur in drei Kantonen mit der SVP verbündet.
Die Volkspartei litt vor vier Jahren auch darunter, dass ihre Erfolgsgaranten Ausländer und Europa gerade keine Hochkonjunktur hatten. Entsprechend schwer tat sie sich im Wahlkampf. Dieses Jahr ist es anders. Die Flüchtlingskrise in Europa spielt der SVP in die Hände. Entsprechend schrille Töne sind bereits zu vernehmen, bis hin zur Forderung von Parteichef Brunner, dass mindestens ein Jahr lang keine positiven Asylentscheide mehr gefällt werden dürfen.
Beim Thema Europa aber scheint sich die Politik stillschweigend auf das von Hans Hess kritisierte Totschweigen geeinigt zu haben. Bis zum 18. Oktober wird sich in diesem Bereich nichts bewegen. Oder zumindest fast nichts, denn Aussenminister Didier Burkhalter hat am Mittwoch einen bemerkenswerten Schritt angekündigt. Die Schweiz will die offenen Dossiers mit der Europäischen Union bündeln, die Verhandlungen soll ein neuer Chefunterhändler führen.
Der Beschluss ist logisch. Für eine tragfähige Zukunft des bilateralen Weges ist ein solides Fundament nötig. Es macht keinen Sinn, Baustellen wie Personenfreizügigkeit und institutionelle Fragen separat zu bearbeiten. Damit rückt jenes Szenario in den Vordergrund, das watson im Februar skizziert hat: Eine «grosse» Abstimmung über ein Rahmenabkommen, inklusive Personenfreizügigkeit. Sie könnte Ende 2016, vielleicht auch 2017 stattfinden.
Burkhalter bestätigte dies am Rande der FDP-Delegiertenversammlung vom Samstag in Amriswil im Gespräch mit watson: «Ich würde eine Paketlösung bevorzugen.» Einfach wird dieser Weg nicht. Für allfällige kleinere Zugeständnisse bei der Zuwanderung wird die Schweiz dicke Kröten schlucken müssen, etwa die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs im Streitfall. Die «fremden Richter» bleiben das heisse Eisen im Ringen mit Brüssel.
Dies könnte eine Erklärung sein für das seltsame Vorgehen von Didier Burkhalter, einen Chefunterhändler anzukündigen, bevor diese Person gefunden wurde. Es scheint, als wolle der Bundesrat das Volk schrittweise, in einer Art diplomatischer Salamitaktik, auf das Unvermeidliche vorbereiten: Es gibt im Verhältnis mit der EU nur alles oder nichts.
Dies ist der Preis, den die Schweiz für ihre «schizophrene» Haltung gegenüber Europa bezahlen muss. Sie will dabei sein, aber nicht mittendrin. «Beitrittsfähig sein, um nicht beitreten zu müssen», nannte man das in den 1990er-Jahren. Also klammert man sich an die Bilateralen, obwohl die Schweiz mit dem Rahmenvertrag zu einem Passivmitglied der EU ohne Stimmrecht werden dürfte.
Es bleibt eine fragile «Lösung». Was passiert, wenn die Arbeitslosigkeit wegen der Frankenstärke in den nächsten Monaten steigt und die Zuwanderung gleichzeitig hoch bleibt? Werden die Verfechter einer offenen Schweiz die Oberhand behalten, oder schlägt die Stunde der Abschotter?
Vielleicht ging es uns in der Schweiz zu lange zu gut. Wir können es uns leisten, uns selbst in die Bredouille zu bringen.
Wie schlecht das Gedächtnis vieler Menschen ist. Der Mindestkurs war kein Naturgesetz, er wurde 3 Jahre zuvor als befristete Massnahme eingeführt. Also war dessen Aufhebung bereits vorgezeichnet. Lustig, dass der Autor den Tag der Aufhebung als schicksalshaft bezeichnet, und nicht den Tag der Einführung (= womit die Schweiz sich faktisch an den Euro angehängt hat, Mitmachen ohne Mitsprache)