Dieser Artikel ist ursprünglich am 22. Januar 2014 zum Start von watson erschienen.
Das Gesicht des aufstrebenden Tech-Konzerns ist Lei Jun, ein Geek, der die Steve-Jobs-Biographie vermutlich im Schlaf rezitieren kann. Der 44-jährige Xiaomi-Boss Lei geniesst in der chinesischen Internet-Szene Star-Status. Er hat über sieben Millionen Follower auf Chinas Twitter-Pendant Weibo. Als Selfmade-Milliardär mit aktuell 3,85 Milliarden US-Dollar Nettovermögen rangiert Lei auf Platz 23 der reichsten Chinesen.
Lei Juns Auftritte haben immer etwas Grössenwahnsinniges. Doch sie haben Methode, lösen sie doch meist ein gewaltiges Medienecho aus. «Wir wollen den Absatz dieses Jahr verdoppeln», sagte das Aushängeschild von Xiaomi (ausgesprochen siaomi) am Tag nach Neujahr. Die Ankündigung ist weit mehr als heisse Luft. Im Gegenteil. Sie ist völlig ernst zu nehmen.
Mitte Januar hat die Marktforschungsfirma Kantar per Twitter verkündet, dass Xiaomi in China im Dezember 2013 nicht nur Apple übertrumpft, sondern gar Samsung als Nummer eins abgelöst habe. Leis grossspurige Ansage könnte somit durchaus realistisch sein.
Wie Steve Jobs weiss auch Lei Jun haargenau, wie man mit den Medien spielt: Zum Beispiel, wenn er den Journalisten den Unterschied von Apple und Xiaomi ins Mikrofon diktiert: «Der Unterschied besteht darin, dass wir auf die Meinung der Kunden hören, während Apple abgehoben sein Ding durchzieht», zitiert ihn das «Handelsblatt». Aus seinem Mund kommen aber nicht nur grosse Töne, er lässt den Ankündigungen auch Taten folgen.
Bereits Jahre vor Xiaomi machte sich Lei als wichtiger Investor in Chinas früherer Internet-Branche einen Namen. Er gründete mehrere Software- und E-Commerce-Firmen. Dazu zählt auch der Online-Bücherladen Joyo, der 2004 von Amazon für 75 Millionen US-Dollar übernommen wurde.
Lei hat den Kult um Apple für sich und Xiaomi perfekt adaptiert. Er kleidet sich wie Steve Jobs in Jeans und schwarzem Pullover und lässt sich wie ein Popstar feiern. In bizarrer Erinnerung bleibt ein Auftritt, bei dem er 2011 das erste Xiaomi-Phone vorstellte und dabei Jobs' iPhone-Präsentation von 2007 bis hin zur Körpersprache imitierte. Die Häme seiner zahlreichen Rivalen und Neider war ihm damit sicher – die Aufmerksamkeit der Medien und der Erfolg bei den Konsumenten ebenso.
Lei hatte Jobs 20 Jahre lang vergöttert und am Ende doch den Tod seines Idols herbeigesehnt. In die Nesseln setzte er sich Mitte 2011, als er in einem Artikel in der Zeitung «Entrepreneur» schrieb: «Unser Leben besteht nur noch darin, zu warten, bis er den Löffel abgibt.» Mit der verunglückten Formulierung wollte er zum Ausdruck bringen, dass nach Jobs' Tod das goldene Jahrzehnt der chinesischen Smartphone-Industrie anbrechen werde.
Wenige Monate später hatte Jobs seinen jahrelangen Kampf gegen den Krebs verloren und Xiaomi lancierte das erste Smartphone. Der Erfolg gibt Lei Recht. Es gelang ihm in kürzester Zeit eine Fangemeinde für Xiaomi aufzubauen, indem er im Stil der «Apple'schen Marketing-Lehre» eine Aura der Exklusivität für seine Produkte schuf. Wenn Lei sagt, «wir wollen nicht möglichst viele Smartphones verkaufen, sondern Kunden glücklich machen», dann glaubt man den verstorbenen Jobs reden zu hören.
Hinter dem Erfolg stehen modernste Technik, stimmiges Design und Heerscharen von Fans, die jeweils auf das neuste Modell warten. Für das Mitte 2013 lancierte Modell Red Rice soll es 7,45 Millionen Vorbestellungen gegeben haben. Das ist umso bemerkenswerter, als Xiaomi sein erstes Smartphone erst Ende 2011 veröffentlicht hat und bislang nur in seinem Heimatland aktiv ist.
Die Chinesen haben bei Apple ganz genau hingeschaut und ärgern die Kalifornier nun mit ihrer besten Waffe: Der asiatische Apple-Klon ist eine perfekt geölte Marketing-Maschine und die User sind nicht bloss Kunden, sondern Anhänger, die den Hype um den chinesischen Tech-Star in die entlegenste Provinz tragen.
Xiaomi wurde am 6. April 2010 vom ehemaligen Google-Manager Bin Lin, Chinas Steve-Jobs-Verschnitt Lei Jun und sechs weiteren Co-Gründern in Peking aus der Taufe gehoben. Das handverlesene Gründungsteam wurde von CEO Lei mit dem Ziel zusammengestellt, einen Technologie-Konzern aufzubauen, der Apple die Stirn bieten kann. Der Grossteil der Gründer hatte zuvor wichtige Positionen bei Google, Microsoft und Motorola inne.
Die Männer mittleren Alters geben sich im Stil von Google und Facebook bewusst geeky und posieren wie ihre Kollegen aus dem Silicon Valley in T-Shirt und Jeans – im konservativen China höchst ungewöhnlich. Ihre Mission: der Welt beweisen, dass Chinesen trotz anderslautenden Vorurteilen hochwertige Produkte herstellen können.
Xiaomi heisst «Hirse» oder wörtlich übersetzt «wenig Reis». Der Name ist vermutlich eine Anspielung darauf, dass man klein starten will und auf Qualität statt Quantität setzt – eine in China eher exotische Strategie. Drei Jahre nach dem Markteintritt beschäftigt Xiaomi bereits 2600 Mitarbeiter und wird mit zehn Milliarden US-Dollar bewertet. 2013 wurden laut Eigenangabe 18,7 Millionen Smartphones verkauft, im Jahr davor waren es erst sieben. Zum Vergleich: Apple soll 2012 weltweit 135 Millionen Smartphones verkauft haben, Samsung gar 213 Millionen.
Im Westen aufhorchen liess Xiaomi erstmals vor einem Jahr, als das Flaggschiff Mi 2S im Heimmarkt Samsungs Galaxy S4 davonsegelte. Mitte 2013 überflügelte man mit fünf Prozent Marktanteil in China erstmals Apple (4,8 %). Apples Gegenangriff mit dem iPhone 5C aus Plastik scheiterte kläglich.
Christian Fröhlich, Analyst der Zürcher Kantonalbank (ZKB), hat dafür eine einfache Erklärung: «Nachdem anfänglichen Hoch des iPhones und anderer High-end-Geräte für zahlungskräftige Kunden boomen nun günstigere Geräte für die breite Bevölkerung, die sich schlicht kein iPhone leisten kann.» Solange Apple keine günstigeren iPhones anbiete, würden die Amerikaner vergleichsweise wenige Smartphones in China verkaufen können, glaubt der ZKB-Analyst.
Apple lässt zwar ebenfalls günstig in den berüchtigten Foxconn-Fabriken in Südchina produzieren, schöpft anders als Xiaomi aber Gewinnmargen ab, die selbst Investmentbanker erröten lassen. Das iPhone 5S kostet in China umgerechnet 787 Franken. Selbst das Plastik-iPhone 5C wird für 663 Franken verkauft. Das ebenbürtige Xiaomi Mi3 erhält man für 300 Franken.
Kommt hinzu: Das iPhone ist erst seit dem 17. Januar 2014 beim grössten chinesischen Telekomanbieter China Mobile im Sortiment. Ein wichtiger Grund für die jahrelange Verspätung: Apple versucht stets möglichst hohe Preise für seine Smartphones durchzusetzen. Bei den Verhandlungen mit Mobile China wurde man sich vermutlich nicht über die Vertragsbedingungen einig – zumindest bis jetzt. «Apple dürfte seinen Marktanteil daher in nächster Zeit leicht vergrössern», sagt ZKB-Analyst Fröhlich. Den Löwenanteil werden aber weiterhin einheimische Konzerne wie Lenovo, Huawei, ZTE und Xiaomi unter sich aufteilen.
Das Fazit: China bleibt für Apple auch künftig ein hartes Pflaster. Im weltgrössten Smartphone-Markt ins Hintertreffen zu geraten, verheisst nichts Gutes: Nokia, HTC oder Sony können davon ein Lied singen. Bereits heute geht weltweit jedes dritte Smartphone zwischen Peking und Hongkong über den Ladentisch – Tendenz steigend.
Das Wirtschaftsmagazin Forbes erinnert Apple zu Recht an die Fehler des kriselnden US-Automobilgiganten General Motors: GM überliess das Budget-Segment zu lange Toyota, da man mit Edelkarossen mehr Geld verdiente. Doch der Corolla hielt Toyota nicht davon ab, auch den Lexus zu bauen.
Xiaomi könnte für Apple ebenso unbequem werden wie Toyota für die US-Automobilriesen. Chinas jüngster Tech-Star baut schon heute Smartphones in iPhone-Qualität zu Preisen, die sich viele Chinesen leisten können.
Das Marketing ist pfiffig, vielleicht gar gewitzter als beim Vorbild aus Cupertino. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Erstens hegt Xiaomi seine Kunden, wie sonst kaum ein Unternehmen. Nutzer erhalten wöchentlich ein Mini-Update auf ihr Smartphone geladen. Die Botschaft ist klar: Wir arbeiten Tag und Nacht daran, dein Smartphone zu verbessern.
Zweitens werden die Smartphones direkt über die in China führende Kurznachrichten-App WeChat reserviert und verkauft.
Drittens hat man einen Deal mit Chinas grösstem sozialen Netzwerk QZone eingefädelt, um die eigenen Smartphones den über 700 Millionen registrierten Usern schmackhaft zu machen – näher kann man nicht an der jugendlichen Zielgruppe sein.
Etablierte Rivalen wie Lenovo und Huawei fluten mit Hilfe der grossen Telekomanbieter den chinesischen Markt mit immer neuen Modellen. Xiaomi hingegen verkauft seine Smartphones online und in limitierten Mengen. Beim Verkaufsstart des neusten Modells Mi3 Anfang November waren die ersten 100’000 Geräte nach 86 Sekunden vergriffen. Solche Erfolgsmeldungen schüren den Hype, und die nächste Tranche verkauft sich ebenfalls innert Minuten.
Als Betriebssystem kommt MIUI (ausgesprochen Me You I) zum Einsatz. Es handelt sich um eine von Xiaomi entwickelte Benutzeroberfläche für Android, die Apples iPhone-Betriebssystem iOS nachempfunden ist.
Besitzer eines Smartphones mit Android 4.2.2 oder höher können MiHome im Google Play Store herunterladen, um Xiaomis Benutzeroberfläche zu testen. MIUI ist kompatibel zu Android, so dass alle installierten Apps weiter funktionieren. Weiterführende Informationen bieten die Webseiten miui-germany.de und miui.ch.
Xiaomi spricht Kunden an, die neuste Technologie zum Schnäppchenpreis wollen – und davon gibt es in China so einige. Doch wie ist es möglich, Mobiltelefone weit unter den Preisen der Konkurrenz zu verkaufen? Die kurze Antwort: Man mixe Amazon mit Google und würze das ganze mit einer Prise Apple.
Natürlich ist es in der Praxis komplexer: «Wer uns mit Apple vergleicht, hat Xiaomi nicht verstanden», sagte CEO Lei in einem Video-Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Er vergleicht seine Firma viel lieber mit Amazon und Google: Beide verscherbeln ihre Tablets und Smartphones, vergrössern so die Reichweite und verdienen später an den Verkäufen in den jeweils eigenen App-Stores das grosse Geld.
Die Tatsache, dass Xiaomi in China, Amazon in den USA oder Yandex in Russland erfolgreich eigene App-Stores für Android aufbauen, zeigt, wie verletzlich Google ist. Zwar beherrschen auf Android basierende Smartphones rund 80 Prozent des weltweiten Marktes, Googles offiziellem App-Store könnten aber in wichtigen Märkten wie China und Indien immer öfter die Kunden fehlen, die bei Xiaomi und weiteren alternativen Stores fremdshoppen.
Wie Google ist auch Xiaomi im Grunde kein Smartphone-, sondern ein Internet-Konzern. Die Mobiltelefone, die fast ohne Gewinn verkauft werden, dienen als Plattform, um die eigene Android-Version MIUI und den eigenen App-Store unters Volk zu bringen. Der App-Store und andere Online-Dienste sollen Gewinne generieren und allfällige Verluste im Smartphone-Geschäft ausgleichen.
Ob der Plan aufgeht, wird sich zeigen: In China heissen die primären Rivalen nicht Apple und Google. Es sind einheimische Software-Giganten wie Alibaba und Tencent, die Xiaomi die Suppe versalzen könnten.
Hinter der hippen Fassade verbirgt sich bei Xiaomi knallharter Kapitalismus: Wie das iPhone werden auch Xiaomi-Smartphones in den Fabriken des taiwanischen Tech-Giganten Foxconn produziert. Dieser sorgt seit Jahren mit Kinderarbeit, Hungerlöhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und Suizidfällen für Schlagzeilen. Apple ist weitaus der grösste Foxconn-Kunde, Xiaomi soll 2013 bereits der fünftgrösste gewesen sein. Wie bei Apple kratzt all dies auch beim chinesischen Shooting Star kaum am Lack.
Kritiker werfen Xiaomi zugleich mangelnde Innovation vor. Zweifellos sind die Chinesen nicht verlegen, wenn es darum geht, die Kopiermaschine anzuwerfen. Beim Design des neusten Modells hat man sich vermutlich von Nokias Lumia-Reihe inspirieren lassen und die Benutzeroberfläche MIUI erinnert an Apples iPhone-Betriebssystem iOS.
CEO Lei pflegt den Vorwurf zu parieren, indem er auf die eigenen Apps verweist. Zudem sei iOS ein geschlossenes System, das vom User kaum personalisiert werden könne. Xiaomis MIUI könne frei angepasst werden und Tausende freie Entwickler und Designern würden neue Funktionen beisteuern.
Ob die noch kleine Smartphone-Rakete Xiaomi je die Flughöhe von Apple und Samsung erreichen wird, muss sich zeigen. «Global flacht das Wachstum des Smartphonemarktes ab und es gibt viel zu viele Anbieter», sagt Christian Fröhlich von der ZKB.
Die chinesische Mobilebranche wurde in den letzten Jahren, wie zuvor auch die Solarbranche, massiv vom Staat subventioniert. Es kam zu Überproduktionen, und seit 2013 steckt Chinas Solarbranche in der Krise. Den Smartphone-Herstellern droht das gleiche Schicksal.
Bei uns gänzlich unbekannte Namen wie Meizu, TCL, THL, Neo etc. balgen mit Grössen wie Lenovo und Huawei sowie der versammelten ausländischen Konkurrenz um Kunden. In diesem Gedränge werden einige auf der Strecke bleiben. Vermutlich jene, die nicht schnell genug den Sprung ins Ausland schaffen.
Doch auch hier hat Xiaomi einen Trumpf im Ärmel. Sein Name: Hugo Barra.
Den bislang grössten Coup landete Xiaomi im Herbst 2013: Ausgerechnet der damalige Android-Vizechef Hugo Barra gab seinen Wechsel von Google zum chinesischen Startup bekannt. Fast gleichzeitig sagte Geschäftsführer Lei, dass Xiaomi noch ein, zwei Jahre brauche, um das Ausland zu erobern. Barra soll dabei helfen.
Zunächst stehen die wichtigsten Wachstumsmärkte Indien, Russland und Südamerika auf der Roadmap. Knacknüsse wie die USA und Europa, die höhere Gewinne versprechen, werden folgen.
Geholt wurde Barra vom ehemaligen Google-Produktmanager und Xiaomi-Präsidenten Bin Lin. Kennengelernt hatten sich Barra und Bin bereits 2008 an Barras zweitem Arbeitstag für Google, im Rahmen eines Meetings in Peking. Als Bin Lin und Lei Jun 2010 Xiaomi gründeten, wechselten mehrere wichtige Google-Mitarbeiter zum chinesischen Startup, erzählte Barra dem renommierten Tech-Blog AllThingsD im vergangenen September.
Als selbst Android-Chefdesigner Matias Duarte Xiaomis Android-Version lobte, war für Barra klar, dass die Chinesen auf dem richtigen Weg sind. «Für mich war das Angebot von Xiaomi eine Chance, die man nur einmal im Leben erhält. Es ist ein Traumjob mit der Möglichkeit eine globale Unternehmung von Grund auf aufzubauen, die eines Tages so wichtig wie Google sein könnte.»