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Mehr Jobs oder weniger Armut? Das ist die Mindestlohnfrage

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Sozialpolitik

Mehr Jobs oder weniger Armut? Das ist die Mindestlohnfrage

In den USA würde eine Anhebung des Mindestlohnes 500'000 Jobs vernichten, aber auch mehr als 16 Millionen Menschen aus der Armut befreien. In der Schweiz ist kein Arbeitsplatzverlust zu erwarten.
20.02.2014, 14:2523.06.2014, 14:58
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Die Frage des Mindestlohnes spaltet Ökonomen und Politiker seit Menschengedenken in zwei Lager: Für die einen ist eine gesetzlich vorgeschriebene Lohnuntergrenze des Teufels, weil sie die Arbeit verteuert und damit Jobs vernichtet. Für die anderen stärken Mindestlöhne die Nachfrage und kurbeln so die Wirtschaft an. Wer hat Recht? Zwei neue Studien geben Antworten. 

Die erste Studie stammt aus den USA. Dort hat das Congressional Budget Office (CBO) die Resultate einer umfangreichen Erhebung zu den Auswirkungen einer Anhebung des amerikanischen Mindestlohnes auf 10 Dollar pro Stunde bekannt gegeben. Bereits jetzt gilt in den Vereinigten Staaten landesweit ein Mindestlohn von 7.25 Dollar pro Stunde, einzelne Bundesstaaten kennen höhere Lohnuntergrenzen. 

Das CBO ist eine neutrale Amtsstelle und für seine Unabhängigkeit bekannt. In den USA ist die soziale Ungerechtigkeit das derzeit brennendste innenpolitische Problem. Rund 50 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner leben in Armut. Präsident Barack Obama hat den Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit zum Schwerpunkt seiner verbleibenden Amtszeit erklärt.

Mindesteinkommen statt Sozialhilfe.Bild: AP
US-Modekette Gap erhöht den Mindestlohn
Die US-Modekette Gap zahlt ihren Angestellten einen höheren Mindestlohn als gesetzlich vorgeschrieben. Rund 65'000 Mitarbeiter in den USA würden in diesem Jahr einen Stundenlohn von neun Dollar, im kommenden Jahr dann von zehn Dollar bekommen, teilte Gap am Mittwoch mit. Gap lehnte es ab, die finanziellen Folgen der Mindestlohnerhöhung zu beziffern. Unternehmenschef Glenn Murphy betonte, hier gehe es nicht um eine politische Entscheidung, sondern um eine unternehmerische: «Wir investieren in unsere Beschäftigten, und wir erwarten, dass sich das doppelt und dreifach auszahlen wird.» (whr/sda)

Höhere Mindestlöhne sind ein längst fälliger Schritt

Zu den Resultaten: Das CBO hält fest, dass eine Erhöhung des Mindestlohnes auf 10 Dollar pro Stunde rund 500'000 Jobs kosten würde. Gleichzeitig würde dies aber auch dazu führen, dass 16,4 Millionen Arbeitnehmer aus der Armutsfalle befreit würden. So gesehen ist dies ein salomonisches Urteil, beide Seiten bekommen ein bisschen Recht. 

Bei näherem Hinsehen überwiegen jedoch die Vorteile. So bezeichnet die «Financial Times» die Erhöhung des amerikanischen Mindestlohns als «längst fälligen Schritt» mit der Begründung, die Erhöhung der Lohnuntergrenze «würde rund zwei Milliarden Dollar mehr Kaufkraft in den Tieflohnbereich pumpen. In einer Zeit, in der die US-Konsumenten immer noch auf ihrem Portemonnaie sitzen, wäre das ein willkommener Stimulus für die Wirtschaft.» 

Selbst konservative Wähler wollen einen höheren Mindestlohn

Die «New York Times» betont den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit. Zu Mindestlöhnen werden nämlich nicht, wie immer wieder kolportiert wird, vor allem Schüler in Hamburgerbuden angestellt. «Bei der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die von einem höheren Mindestlohn profitieren würden, handelt es sich nicht um Teenager mit einem Teilzeitjob» stellt die «New York Times» fest. «Rund 90 Prozent sind älter als 20 und 53 Prozent arbeiten vollzeitlich. Der Anteil der Frauen liegt bei 56 Prozent.» 

Obwohl sie vollzeitlich arbeiten, sind die meisten dieser Erwerbstätigen auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen. Die Erhöhung des Mindestlohns ist eine sehr populäre Forderung. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner unterstützt sie, selbst die Mehrheit der republikanischen Wähler. Die Grand Old Party bekämpft die Forderung jedoch mit Zähnen und Klauen und wird alles unternehmen, um die Erhöhung im Kongress zu blockieren.

Wie sieht es in der Schweiz aus? Am 18. Mai werden wir über eine entsprechende Initiative der Gewerkschaften abstimmen. Sie verlangt, dass in der Schweiz der minimale Stundenlohn bei 22 Franken und der tiefste Monatslohn bei 4000 Franken (bei einer Arbeitszeit von 42 Stunden pro Woche) liegen sollen. Wirtschaftsverbände und Bundesrat lehnen die Initiative ab. 

77 Franken mehr pro Monat

Beat Baumann, ehemals Ökonomie-Professor an der Hochschule Luzern, hat im Auftrag der Gewerkschaft Unia die Auswirkungen eines Mindestlohnes untersucht. Im Jahr 2010 haben 329'000 Arbeitnehmer weniger als 22 Franken in der Stunde verdient, auf Vollzeitstellen hochgerechnet waren es rund 250'000. Das entspricht 9 Prozent aller Erwerbstätigen. Erhöht man diese Löhne, dann hat dies einen Anpassungsbedarf von 1,56 Milliarden Franken zur Folge. Die durchschnittliche monatliche Lohnerhöhung würde 460 Franken betragen. Die Studie geht davon aus, dass diese Lohnerhöhung nicht schlagartig, sondern gestaffelt über 6 Jahre in Kraft treten würde. Das bedeutet eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 77 Franken pro Monat. 

Baumann geht davon aus, dass dies die Wirtschaft ohne nennenswerten Abbau von Arbeitsstellen verkraften könnte. «In den drei Branchen mit den meisten Tieflöhnen zeigt sich, dass eine schrittweise Erhöhung der Tieflöhne im Rahmen von GAV ohne negative Folgen für die betrieblichen Gesamtkosten oder die Beschäftigung möglich ist», heisst es in der Studie. Profitieren würde hingegen die öffentliche Hand. Der Staat müsste 296 Millionen Franken weniger Sozialbeiträge auszahlen, würde 173 Millionen Franken mehr Steuern einnehmen und hätte 100 Millionen Franken Entlastung bei der Sozialhilfe. 

Wollen wir einen neuen Geldadel?

Fazit: In der Mindestlohndebatte werden uns die Ökonomen keine eindeutigen Antworten liefern – und wir sollten sie auch nicht von ihnen erwarten. Wirtschaftlich gibt es Vor- und Nachteile, daher verkommt die Debatte zu einem Glaubenskrieg. Politisch hingegen ist der Fall klar: Wenn wir verhindern wollen, dass immer mehr Erwerbstätige von ihrem Lohn kein menschenwürdiges Leben mehr führen können, und wenn wir verhindern wollen, dass die Einkommensunterschiede weiter zunehmen und ein neuer Geldadel entsteht, dann spricht alles für einen anständigen Mindestlohn.  

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