Ist von Asylsuchenden und Zahnbehandlungen die Rede, geht es oft um den Vorwurf, sie würden sich auf Kosten der Steuerzahlerinnen und -zahler die Zähne «sanieren» lassen. Denn ein Grossteil der Asylsuchenden, vorläufig Aufgenommenen und Personen mit Schutzstatus S wird durch die öffentliche Hand unterstützt.
Doch wie eine Recherche von watson zeigt, erleben Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene in Schweizer Zahnarztpraxen ganz anderes. Betroffene und Fachpersonen im Asylwesen und zahnärztlichen Bereich schildern, dass manche mit Zahnproblemen vor die Wahl gestellt würden: entweder Zahn ziehen oder Schmerzmittel nehmen.
Zwar ist das Zähneziehen Teil der Empfehlungen der Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte (VKZS) für Personen im Asylwesen, weil es günstig und effizient ist. Der Co-Präsident der VKZS Peter Suter sagt aber: «Wer Asylsuchende vor die Wahl stellt, Zahn raus oder Schmerzmittel, und nicht über Alternativen im Rahmen der sozialen Zahnmedizin aufklärt, handelt nicht im Sinne der Sozialmedizin.»
Auf Nachfrage von watson sagt SVP-Nationalrat Michael Graber, er halte das aktuelle System für «vernünftig, pragmatisch und human». Graber, der Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ist, befürwortet eine Abstufung der medizinischen Leistungen nach Status: «Wer keinen festen Aufenthaltsstatus hat, sollte nur eingeschränkte Leistungen bekommen.»
Auch wenn das in der Praxis zum Teil bedeutet, Zähne zu ziehen, ohne eine alternative Behandlung anzubieten? Graber bejaht: «Ich finde es richtig, dass man zur Not die Zähne zieht und keine alternative Behandlung vornimmt. Das ist mehr, als jeder Schweizer erhält, der seine Zahnbehandlung selbst finanzieren muss.»
Sobald eine geflüchtete Person eine Arbeit habe, könne sie sich eine Prothese finanzieren. Er glaube ausserdem nicht, dass Personen, denen Zähne fehlten, Schwierigkeiten hätten, eine Arbeit zu finden. Graber geht es ums Prinzip: «Nur jene Behandlungen sollten von der öffentlichen Hand übernommen werden, bei denen einer Person akute und gleichzeitig schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen.»
Eine, die das diametral anders sieht, ist Nina Schläfli. Die SP-Nationalrätin, die Teil der staatspolitischen Kommission ist und sich mit Asylthemen befasst, betont: «Gesunde Zähne dürfen kein Luxusprodukt sein.»
Dass Personen im Asylwesen schlechtere Leistungen erhalten als Menschen in der regulären Sozialhilfe, betrachtet sie als einen «unhaltbaren Zustand».
Die Zahnmedizin sei ein kostenintensiver Bereich, räumt Schläfli ein. So könne sie durchaus nachvollziehen, wenn bei Personen im laufenden Asylverfahren nicht von Anfang an alle Behandlungen bezahlt würden. Trotzdem gehe es ihr um einen Grundsatz: «Körperliche Unversehrtheit und Gesundheit kann man nicht finanziell bemessen.»
Es handle sich dabei nicht nur um ein ethisches Problem. Auch die Folgekosten von unbehandelten Zahnproblemen oder gezogenen Zähnen dürften nicht ausser Acht gelassen werden. Das sei im Interesse aller, sagt Schläfli: «Ein ganzheitlicher Ansatz ist dringend notwendig, alles andere verlagert die Kosten.»
SVP-Nationalrat Graber hingegen vertritt die Ansicht, dass in der Zahnmedizin die Eigenverantwortung hochgehalten werden sollte: «Das ist der einzige medizinische Bereich, in dem Prävention und Eigenverantwortung funktionieren.» SP-Politikerin Schläfli widerspricht: «Eigenverantwortung löst nicht jedes Problem.» Es gebe Situationen, in denen der Sozialstaat in der Pflicht sei. Zum Beispiel in der sozialen Zahnmedizin bei Personen im Asylwesen.
Die Schweiz hat mit der Sozialzahnmedizin bereits ein Auffangnetz für jene, die für ihre Zahnarztrechnung nicht selbst aufkommen können. Reicht das nicht? Schläfli verneint: «Es gibt grosse Löcher in der Sozialzahnmedizin.»
Diese Löcher werden, wie die Recherche von watson zeigt, immer wieder auch von Privaten oder grosszügigen Zahnarztpraxen aufgefangen. Das sei keine Lösung, sagt Schläfli: «Wenn man in einer Region lebt, in der es keine Stiftungen oder keine Zahnärztinnen und Zahnärzte gibt, die kostenlos behandeln, hat man im Moment einfach Pech gehabt.» Ob man eine gute Behandlung erhalte oder nicht, dürfe aber keine Lotterie sein. «Ethisch sehe ich hier ein grosses Fragezeichen», hält sie fest.
Der Sozial- und Gesundheitspolitiker Graber von der SVP sagt zur gängigen Praxis: «Ethisch ist das für mich absolut in Ordnung.» Auch dann, wenn jungen Menschen oder Geflüchteten mit sonst gesunden Gebissen Zähne gezogen werde.
Besonderen Handlungsbedarf sieht SP-Politikerin Schläfli bei den Menschen mit Status F, den sogenannt vorläufig Aufgenommenen. Sie erhalten in der Zahnarztpraxis – wie Asylsuchende – nur reduzierte Behandlungen, obwohl sie oft viele Jahre in der Schweiz bleiben.
Schläfli sieht eine unfaire Ungleichbehandlung: «Menschen mit Status F sind genauso wie anerkannte Flüchtlinge vor Kriegen oder Gewalt geflohen, erhalten aber deutlich weniger Leistungen.» Sie sieht bei diesem Status Reformbedarf, der über die Zahnmedizin hinausgeht.
Graber verneint die Frage, ob für vorläufig Aufgenommene bei Zahnbehandlungen grosszügigere Regeln gelten müssten. «Diese Personen wurden abgewiesen», sagt er. Darum halte er eingeschränkte Leistungen wie im aktuellen System für angemessen.
Politischen Handlungsbedarf sieht SP-Nationalrätin Schläfli – anders als SVP-Nationalrat Graber – nicht nur beim Status F: «Das System der Sozialzahnmedizin muss grundsätzlich neu angeschaut werden.» Dabei sollten auch kantonale Unterschiede analysiert und Kosten und Nutzen der aktuellen Handhabung abgewägt werden. Und die Frage, wie Mindeststandards garantiert und kontrolliert werden können.
Mögliche Lösungen sieht Schläfli bei einer allgemeinen Zahnversicherung oder der Integration von Zahnbehandlungen in die Krankenkasse. Denn Zahnbehandlungen seien für viele Menschen eine finanzielle Herausforderung, auch für solche in der regulären Sozialhilfe oder für Menschen mit kleinem Budget, die ohne staatliche Unterstützung auskommen müssten. Graber stellt sich diesen Vorschlägen entschieden entgegen.
Politisch dürfte Schläflis Forderung einen schweren Stand haben. Erst vergangenes Jahr scheiterte eine Motion der Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber, welche die Zahnmedizin über die Grundversicherung abdecken wollte, mit 123 zu 62 Stimmen.
Sie sind es aber Frau Schläfli - gerade in der Schweiz - wenn die Politikerinnen den Bezug zur Realität verlieren 🙄.
Ich habe mir auch schon Zähne ziehen lassen weil finanziell gerade nichts anderes drin lag…