«Als ich zum ersten Mal hier oben gemessen habe, gab es diesen See noch nicht. Vor zwanzig Jahren war das alles Gletscher», sagt Glaziologe Matthias Huss und zeigt auf die riesige graugrüne Wasserfläche, die sich vor ihm am Fusse des Rhonegletschers ausbreitet. Huss klingt unberührt. So, dass man geneigt ist zu denken: So schlimm kann das, was er hier beschreibt, gar nicht sein. So düster sieht die Zukunft gar nicht aus. Doch der Eindruck täuscht.
«Aus wissenschaftlicher Sicht befinden wir uns in einer spannenden Zeit.» Mit dieser Perspektive spendet sich Huss selbst Trost. 20 Jahre Forschung haben ihn abgehärtet. Schmerzen tut es ihn trotzdem jedes Mal, wenn er als Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS Messungen auf einem kleinen Gletscher definitiv aufgeben muss. Weil ihm beim Einsammeln der Messgeräte bewusst wird, was das bedeutet: Bei seinem nächsten Besuch könnte der Gletscher schon gar nicht mehr existieren. Es könnte nur noch ein Häufchen Toteis übrig sein.
Dieses Schicksal wird nach aller Wahrscheinlichkeit auch den Rhonegletscher im Kanton Wallis ereilen. Huss sagt:
Ein Szenario, das man angesichts der riesigen Eismasse, die sich zwischen den Bergspitzen hinabschlängelt, kaum glauben kann. Und noch weniger, als Huss anfügt: «Verglichen mit den anderen 1400 Schweizer Gletschern ist der Rhonegletscher noch relativ gesund.»
Die Sonne brennt herunter. Huss macht sich auf den Weg zum Rhonegletscher. Zunächst über glatt geschliffene Felsen dem Seeufer entlang. Dann vorbei an spitzen Hügeln, die mit weissen Planen abgedeckt worden sind. Es ist der klägliche Versuch der Besitzer des Hotels Belvédère, die künstliche Eisgrotte, die seit Generationen in Familien-Tradition ins Eis gegraben wird, vor dem Schmelzen zu bewahren. Denn für diese bezahlen Touristinnen und Touristen täglich neun Franken Eintritt.
Als Huss den ersten Fuss auf das Gletschereis setzen kann, knirscht es. Ein eisiger Wind setzt ein. Wie sich der Klimawandel anhört, kann man trotzdem vernehmen. Huss’ Schritte begleitet ein stetes Tröpfeln. Wer stehen bleibt, die Luft anhält und die Ohren spitzt, kann leises Blubbern hören. Da, wo die Luft, die eine kleine Ewigkeit im Eis eingeschlossen war, in den mit eisblauem Wasser gefüllten Pfützen, Löchern und Rissen an die Oberfläche drängt. Diese Geräuschkulisse wird begleitet vom ständigen Rauschen kleiner Bäche, die sich im und auf dem Gletscher gebildet haben.
Huss passiert eine Stelle, an der diese Bäche ein rund 20 Meter tiefes, trichterförmiges Loch ins Eis gefressen haben. Eine Gletschermühle von etwa vier Metern Durchmesser. Entstanden ist sie in kürzester Zeit. Huss erklärt:
Noch in diesem Sommer könne an dieser Stelle ein ganzer Teil der Gletscheroberfläche einstürzen. Und unwiderruflich verloren sein.
«Im Juni kann es noch gefährlich sein, sich auf dem Gletscher zu bewegen», sagt Huss. Oft läge dann noch eine Schneeschicht über dem Eis, sodass man nicht sehen könne, ob sich darunter eine Gletschermühle befinde. Doch Mitte Juni 2025 liegt hier kein Schnee mehr. Weil wir uns nicht mehr in «normalen» Zeiten befinden. Die schweizweite Mitteltemperatur betrug in diesem Monat 17,3 Grad, wie MeteoSchweiz ausweist. Das ist der zweitheisseste Juni seit Messbeginn 1864.
Wie schnell ein Gletscher bei diesen Temperaturen schmelzen kann, kann Huss nach wenigen zurückgelegten Höhenmetern zeigen. Bei der ersten Messstange. Vor zehn Tagen hat er hier einen Metallpegel ins Eis gebohrt. Bündig mit der Eisoberfläche. Jetzt jedoch ragt der Pfosten aus dem Eis.
Huss nimmt ein Massband hervor und setzt es am Pfosten an. «100 Zentimeter», liest er ab. So viel ist der Rhonegletscher innerhalb dieser Zeit geschmolzen.
Einige Höhenmeter weiter oben liegt ein acht Meter langer Pfosten auf dem Eis. Zurückgeblieben vom vergangenen Herbst. Huss stellt ihn auf. Zeigt mit dem Finger zur Spitze und sagt:
Gesamtschweizerisch verloren die Gletscher im letzten Jahr 2,3 Prozent ihres Volumens. Dem gingen die beiden Extremjahre 2022 und 2023 voraus, in denen 10 Prozent des schweizweiten Gletschervolumens schmolzen.
Der Klimawandel setzt in unseren Alpen eine ganze Abwärtsspirale in Gang. Gletscher schmelzen nicht nur schneller, sie können sich im Winter auch nicht mehr erholen. Gerade der vergangene Winter war zu mild. Auf dem Rhonegletscher blieb kaum Schnee liegen. «Schnee reflektiert Sonnenstrahlen und kann das Schmelzen verlangsamen», sagt Huss.
Die Folgen davon wird die Schweizer Bevölkerung voraussichtlich zu spüren bekommen, lange bevor der Rhonegletscher nur noch aus einem Rest Toteis besteht. Huss sagt:
Das sei für viele schwer vorstellbar, wenn man die Rhone von hier oben betrachte, die reissend aus dem Gletschersee ins Tal stürzt. Aber: «Es kann plötzlich sehr schnell gehen. Wir haben den Kipppunkt bald erreicht.»
Zuerst werde zu viel Wasser vom schmelzenden Eis kommen. Dann die Dürre.
Betroffen wären das ganze Wallis, ja auch Teile Südfrankreichs, wo die Rhone im Mittelmeer mündet. Dem Genfersee könnte es so gehen, wie es im April dem Bodensee erging. Das fehlende Schmelzwasser von den Gletschern, die den Rhein speisen, und die geringen Regenfälle im Frühling sorgten für apokalyptische Bilder: Boote, die auf dem Trockenen lagen, Menschen, die zu Fuss von der deutschen Hafenstadt Lindau zu einer kleinen Insel laufen konnten – über ausgetrockneten Seeboden. Die «Bild»-Zeitung titelte: «Am Bodensee kann man den Boden sehen.»
Aber das ist noch nicht alles, was der Gletscherschwund mit sich bringt. Auch der Meeresspiegel steigt. Und: «Das gesamte Ökosystem, die gesamte Landschaft um die Gletscher herum verändert sich.» Die Baumgrenze habe sich schon längst nach oben verschoben. Zahlreiche Tiere und Pflanzen aus tieferen Gebieten wanderten hinauf. Und verdrängten alpine Flora und Fauna. Mit unvorhersehbaren Folgen für die Biodiversität.
Lässt sich diese Entwicklung noch aufhalten? «Bis zu einem gewissen Grad nicht mehr, nein», sagt Huss. 2023 veröffentlichte er zusammen mit einem internationalen Forschungsteam eine Studie, die zum Ergebnis kam: Selbst im günstigsten Fall, wenn der weltweite Temperaturanstieg bei 1,5 Grad begrenzt bleiben würde, dürfte jeder zweite der 215'000 untersuchten Gletscher auf der Welt bis im Jahr 2100 verschwinden. Steigt die Erderwärmung auf zwei Grad – so wie es das Pariser Klimaabkommen vorsieht –, könnten sogar 70 Prozent der Gletscher weltweit verschwinden.
Darum wird es Huss nicht überraschen, wenn er heute in einem Jahr an genau derselben Stelle auf dem Rhonegletscher stehen wird. Acht Meter weiter unten. Oder sogar noch tiefer.
1- nicht existiert
2- auf jeden Fall betrifft es nicht die schöne Schweiz
3 Wir können sowieso nichts dagegen tun?
➡️ Für die "landwirtschaftliche Umstellung" empfehle ich nun jedenfalls Dettling, sich nach der Haltung von Kamelen 🐫 oder Alpakas zu erkundigen.
Don`t look up