Er ist bizarr, schön und mystisch: der Lac Souterrain de Saint-Léonard zwischen Sion und Sierre im Kanton Wallis. Bei dem See, über dem nie die Sonne scheint, handelt es sich nicht um irgendeinen Grottensee. Er ist ein unterirdischer See von enormem Ausmass, der lange Zeit unbeachtet blieb.
Im Dorf erzählte man sich schon lange von dem Geheimnis im Untergrund, von dem die Winzer berichteten, aber kaum jemand wusste genau, was sich in den Höhlen unter St. Léonard tatsächlich verbirgt. Es gab einige Versuche die Höhle zu erkunden, aber sie war sehr schwer zugänglich und voller Wasser. Erst der bekannte Höhlenforscher Jean-Jaques Pittard lüftete im Jahr 1943 das Geheimnis der Grotte. Er entdeckte einen unterirdischen See, dessen Wasser damals noch fast bis zur Decke reichte.
Der hohe Wasserstand sollte sich schlagartig ändern. Am 25. Januar 1946 bebt die Erde rund um Sion und Sierre stark. Mit grossen Folgen für die Höhle. Die hydrologische Beschaffenheit des Gesteins verändert sich so, dass der Wasserspiegel sinkt. Damit wird die Befahrung des unterirdischen Sees mit einem Boot überhaupt erst möglich.
1949 beginnen einige findige Einheimische die Grotte für Besucher zugänglich zu machen. Sie organisieren Bootsfahrten auf dem schwarzen See. Das Interesse ist enorm und dauert an. Bis zu 100'000 Besucher aus dem In- und Ausland besuchen heute die Höhle. Kein Wunder, denn das Naturphänomen ist beeindruckend, wie nicht nur die Bilder, sondern auch die folgenden Zahlen und Fakten zeigen:
Lediglich die Seegrotte im niederösterreichischen Hinterbrühl ist knapp 200 Quadratmeter grösser. Allerdings handelt es sich dabei um eine künstliche Grube, in der früher Gips abgebaut wurde. Der Lac Souterrain de Saint-Léonard hingegen ist natürlich entstanden.
Es gibt also genug Platz für eine Erkundungstour mit dem Boot. Der See ist im Schnitt zehn Meter tief. Vereinzelt wird Tauchern in Begleitung erlaubt, den See unter Wasser zu erkunden.
Ob Winter oder Sommer - die Temperatur des Wassers ist immer gleichbleibend. Auch die Lufttemperatur in der Höhle variiert nur wenig.
Das Gestein der Höhle besteht aus Gips, Schiefer und Marmor. Die Höhle verdankt ihr Entstehen der durch das eindringende Wasser bedingten Auflösung der Gipsmassen. Der Rückstand des Auflösungsprozesses besteht aus eisenhaltigem Lehm, welcher den Seegrund abdichtet. Der Lehm verhindert das rasche Versickern des Wassers durch die Spalten.
In der Grotte finden immer wieder Konzerte statt. Die Stimmung und vor allem der Klang sind aussergewöhnlich und verleihen diesen Anlässen etwas sehr Spezielles.
Im Dorf erzählen sich die Menschen, dass unverheiratete Frauen, die sich am 24. Dezember an den See setzen, einen Blick in die Zukunft werfen können. Der Legende nach soll – sobald die Uhr Mitternacht geschlagen hat – durch die Reflektion des Mondscheins im See das Antlitz des zukünftigen Ehemannes erscheinen. (oku)