Vollkommen überladen stampft die «Wilhelm Gustloff» am 30. Januar 1945 durch die Nacht. Vermutlich über 10'000 Menschen drängen sich auf dem für knapp 1500 Passagiere ausgelegten Schiff: Soldaten, Verwundete, vor allem aber Flüchtlinge aus Ostpreussen und Danzig, die vor der Roten Armee fliehen, darunter viele Kinder.
Die Menschen an Bord des stählernen Kolosses sind erschöpft, aber sie sind glücklich. Die «Gustloff», so denken sie wohl, wird sie in Sicherheit bringen. Doch die meisten von ihnen werden den Morgen nicht mehr erleben.
Der Truppentransporter war im Mai 1937 in Hamburg als Kreuzfahrtschiff der Nazi-Organisation «Kraft durch Freude» (KdF) vom Stapel gelaufen. Das «Traumschiff der Nazis» verfügte über ein Schwimmbad und einen Theater- und Musiksaal, einen Rauchsalon, sieben Bars, ein Kino und zwei Promenadendecks.
208,5 Meter Länge, 23,5 Meter Breite und 25'484 Bruttoregistertonnen machten «Hitlers Titanic» zum damals grössten Kreuzfahrtschiff der Welt.
Die Karriere als Vergnügungsdampfer dauerte nur kurz: Nach Kriegsbeginn wurde die «Gustloff» von der Kriegsmarine übernommen und zum Lazarettschiff umfunktioniert. Später diente sie dann als schwimmende Kaserne für angehende U-Boot-Matrosen. Bis zu ihrer letzten Fahrt lag sie nun im Hafen von Gdingen (Gdynia), das die Nazis in «Gotenhafen» umbenannt hatten.
Während Kapitän Friedrich Petersen die abgedunkelte «Gustloff», die nur vom Torpedoboot «Löwe» eskortiert wird, durch die raue See Richtung Westen steuert, gibt der sowjetische U-Boot-Kommandant Alexander Marinesko den Befehl zum Auftauchen. Sein U-Boot, die S-16, ist der deutschen U-Boot-Abwehr entgangen und hat sich auf der Suche nach einem lohnenden Ziel der Küste genähert.
Gegen 18 Uhr erhält Petersen einen Funkspruch: Ein Minensuchverband befinde sich auf Kollisionskurs mit der «Gustloff». Das stimmt zwar nicht, doch Petersen kann das nicht wissen. Er lässt die Positionslichter einschalten – ein tödlicher Fehler. Denn etwa um 19 Uhr sieht der Erste Offizier auf dem Gefechtsturm der S-16 die Lichter. Marinesko kommt auf den Turm und erkennt «die Silhouette eines enormen Linienschiffs, sogar mit den Lichtern an».
Rund zwei Stunden lang pirscht sich das sowjetische U-Boot an die «Gustloff» heran, die nur mit zwölf Knoten unterwegs ist – etwas langsamer als die S-16. Die nichtsahnenden Menschen an Bord werden unterdessen mit einer Live-Radioansprache des «Führers» beschallt, der zum zwölften Jahrestag der «Machtergreifung» 1933 irrwitzige Durchhalteparolen bellt.
Inzwischen sind die Positionslichter wieder ausgegangen. Zu spät. Um 21 Uhr hat sich der Jäger seiner Beute bis auf 700 Meter genähert; Marinesko lässt vier Torpedos klarmachen.
Auf dem ersten Torpedo steht «Für das Mutterland», auf Torpedo zwei «Für Stalin», auf dem dritten «Für das sowjetische Volk» und auf dem vierten «Für Leningrad». Um 21.16 Uhr gibt Marinesko den Befehl, den Torpedofächer abzuschiessen. Drei Torpedos treffen die «Gustloff»; «Für Stalin» bleibt im Rohr stecken.
Die Treffer sind verheerend: Der erste Torpedo reisst das Vorschiff backbord auf, der zweite trifft das abgelassene Schwimmbad, in dem hunderte von jungen Marinehelferinnen einquartiert sind. Sie sind die ersten, die sterben. Der dritte Torpedo schlägt im Maschinenraum ein und lähmt das tödlich getroffene Schiff. Die Maschinen stoppen, das Licht fällt aus.
Panik bricht aus. Die Menschen auf den unteren Decks haben keine Chance. Tausende versuchen gleichzeitig, über die Treppen nach oben zu kommen. Wer stürzt, wird zertrampelt. Unter Deck eingeschlossene Offiziere erschiessen ihre Familien.
Auf dem vereisten Deck gleiten manche aus und stürzen ins Wasser. Die viel zu wenigen und viel zu kleinen Rettungsboote sind festgefroren, nur wenige können klargemacht werden. Der Kampf um einen Platz darin ist mörderisch.
Im zwei Grad kalten Ostseewasser – die Lufttemperatur beträgt minus 18 Grad – erfrieren die meisten Menschen nach wenigen Minuten. Klammern sie sich an die brechend vollen Rettungsboote, schlagen ihnen die verängstigten Insassen auf die Hände, aus Furcht, das Boot könnte kentern.
Nach einer Stunde sinkt die «Gustloff» rund 23 Seemeilen von der Küste entfernt. Nur 1252 Menschen können von herbeigeeilten Schiffen gerettet werden. Über 9000 kommen um; etwa sechsmal so viele wie beim Untergang der «Titanic».
Die Tragödie der «Gustloff» ist damit bis heute die schlimmste Katastrophe der Seefahrtsgeschichte, bei der nur ein einzelnes Schiff betroffen war.