Die Bundesratswahl ist vorbei, und bereits steht das nächste politische Grossereignis bevor: Die Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 am Sonntag. Während der Favorit Ignazio Cassis bei der Burkhalter-Nachfolge einen klaren Start-Ziel-Sieg feiern konnte, ist bei der Rentenreform alles offen. Die letzten Umfragen sehen das Ja-Lager nur knapp vorne.
Damit rückt ein Aspekt ins Zentrum, den kaum jemand auf der Rechnung hatte: Während beim Gesetz zur Altersvorsorge das Volksmehr ausreicht, benötigt die Erhöhung der Mehrwertsteuer zusätzlich das Ständemehr, weil es sich um eine Verfassungsabstimmung handelt. Konkret bedeutet dies, dass das Stimmvolk zweimal Ja sagen und die Reform dennoch scheitern könnte.
Die beiden Vorlagen sind miteinander verknüpft. Bringt das Ständemehr die Mehrwertsteuer zu Fall, ist die ganze Reform gestorben. Dies ist nicht allen Stimmberechtigten bewusst: Laut der zweiten SRG-Trendumfrage wollen zwölf Prozent je einmal Ja und Nein stimmen. Das macht die Ausgangslage für die Befürworter schwierig, sie brauchen faktisch ein dreifaches Ja.
Den Gegnern genügt ein einziges Nein für einen Erfolg am Sonntag. Deshalb spielt das Ständemehr bei ihrer Strategie für die Schlussmobilisierung eine Rolle, bestätigt Matthias Leitner, der Leiter der bürgerlichen Nein-Kampagne: «Alles andere wäre fahrlässig.» Damit rücken die (Halb-)Kantone in den Fokus, die bei der Mehrwertsteuer kippen könnten.
Das Institut GFS Bern, das die SRG-Umfragen durchführt, hat in einer Studie zur Rentenreform fünf wahrscheinliche «Swing States» identifiziert: Baselland, Solothurn, St.Gallen, Wallis und Tessin. Diese Einschätzung ist nicht unumstritten. «Es erstaunt mich vor allem beim Tessin, denn dort liegt die Lega auf unserer Linie», sagte CVP-Präsident Gerhard Pfister der «Aargauer Zeitung».
Seine Partei hat den Lead im bürgerlichen Ja-Komitee. Dieses hat seine eigene Analyse zu möglichen «Wackelkantonen» erstellt, wie Kampagnenleiterin Laura Curau erklärt: «Wir mussten unsere Mittel gezielt einsetzen und haben uns deshalb als bürgerliches Komitee unter anderem auf Landkantone wie Aargau, Bern oder Baselland konzentriert.»
Letzterer ist aus Sicht des GFS Bern besonders interessant. Baselland könnte mit seiner halben Standesstimme für ein Patt von 11,5 zu 11,5 Kantonen sorgen. Ein solches «Unentschieden» wäre faktisch ein Niederlage, weil das Ständemehr nicht erreicht wurde.
Den Gegnern genügt damit sogar ein «halbes» Nein, um die Reform zu Fall zu bringen. Im schlimmsten Fall könnte dies am Sonntag zum Szenario führen, dass die Altersvorsorge ein doppeltes Volks-Ja erreichen und wegen eines einzigen Halbkantons trotzdem scheitern könnte. In diesem Fall könnte sich eigentlich keine Seite als Sieger fühlen.
Matthias Leitner vom Nein-Komitee ficht dies nicht an. Ein solches Ergebnis wäre für ihn «ein Veto der eher ländlichen Bevölkerung gegen einen AHV-Ausbau». Im Klartext: Ein Nein ist ein Nein. Allerdings wird die Reform nicht nur von Bürgerlichen bekämpft, sondern auch von linken Kräften vorab aus der Westschweiz. Sie akzeptieren weder ein höheres Frauenrentenalter noch eine Senkung des Umwandlungssatzes bei der beruflichen Vorsorge.
Im östlichen Landesteil ist das linke Nein kaum ein Thema. «Kleine bürgerliche Kantone in der Deutschschweiz stimmen nicht aus den gleichen Gründen Nein wie Kommunisten in Genf», erklärt Leitner. Was er nicht ausdrücklich sagt, aber meint: Bringen Deutschschweizer Kantone die Reform zu Fall, wird das bürgerliche Komitee die Deutungshoheit über das Nein beanspruchen.
Die Befürworter wollen dafür sorgen, dass es nicht soweit kommt. Man setze bei der Schlussmobilisierung ganz bewusst noch einmal den Stimmzettel ein, um den Leuten zu vermitteln, dass die beiden Vorlagen miteinander verbunden sind, sagt Laura Curau. Eine Aufsplittung der Stimmen soll verhindert werden, da dies nur den Gegnern nützt.
Für wen die Rechnung am Ende aufgeht, zeigt sich am Sonntag.