Schweiz
Serie – Schweiz und EU

Schweiz – EU: Wie weiter drei Jahre nach der MEI-Annahme?

Kapitel 1: 
Ja zur MEI und Toni Brunner weiss nicht, was tun

Bild: Shutterstock/watson
Serie Schweiz – EU
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Mit der Annahme der MEI brach die Schweiz mit der EU und ihren Prinzipien. Anlässlich des dreijährigen Jubiläums des Entscheids vom 9. Februar 2014 blicken wir in einer sechsteiligen Serie zurück auf die bewegte Geschichte unserer Beziehung zu Europa. 
30.01.2017, 12:0030.01.2017, 13:59
Joel Bedetti
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Folge mir
Sven Rüf
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«Läck, Bern auch! Das hätte ich jetzt nicht gedacht!»
Regula (46) giesst Anna (18) Tee nach

Draussen ist es kalt und nass, drinnen starrt die Familie Padruzzi* auf die Kantonsflaggen, die am Bildschirm erscheinen. Die Urschweiz und Appenzell Innerrhoden sagen Ja, das war ja klar. Aber auch Luzern sagt Ja, jetzt auch Bern, mit 51,1. Prozent. «Läck, Bern auch! Das hätte ich jetzt nicht gedacht!» Regula (46) giesst Anna (18) Tee nach.  Die Tessinerflagge leuchtet auf. 68,8 Prozent Ja.

Wir sind in Zürich Dietlikon, es ist der Abend des 9. Februar 2014.

Die Blase platzt: Der Teletext informiert über die Volksinitiative zur Masseneinwanderung, am Sonntag, 9. Februar 2014, in Bern.
Die Blase platzt: Der Teletext informiert über die Volksinitiative zur Masseneinwanderung, am Sonntag, 9. Februar 2014, in Bern.Bild: Keystone

«Wow», flüstert Mario (48) und reibt nervös seine Hände an der Kaffeetasse, «das ist ein Erdbeben.» Die Schweiz ist mit Ausnahme der Romandie und weniger Flecken im Norden grün. Jetzt sagt auch Baselland ja. Die Schweiz hat die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen. «Shiit». Jan (16) blickt kurz auf und tippt wieder ins Handy. Anna dreht ihren Kopf zu Regula und Mario (48), die erschüttert in ihren Korbsesseln sitzen. «Ihr Idioten», faucht sie, «ich glaub's nicht. Wie war das nochmals? Ein Zeichen setzen? Weil die Initiative eh nicht angenommen wird?» Mario grinst seiner Tochter zu. «Technisch gesehen haben unsere Stimmen nicht gezählt. Zürich hat abgelehnt.» Anna verdreht die Augen und geht kopfschüttelnd in ihr Zimmer. «Verdammte Hinterwäldler», hören sie vom Flur her. Regula zuckt die Schultern. «Vielleicht hat's auch sein Gutes, oder? Vielleicht wird jetzt weniger gebaut.»

Diese interaktive Karte zeigt die wichtigsten Meilensteine in der Beziehung Schweiz – EU

Klicke auf den Pfeil oder wische auf dem Handy nach links, um die weiteren Jahre anzuzeigen. Tippe auf die Symbole, um mehr über die wichtigsten Ereignisse und Abstimmungen zu erfahren.

Europaabstimmungen seit 1972

3. Dezember 1972
Freihandelsabkommen CH–EWG
Ja: 72.5%
Nein: 27.5%
Bundesbeschluss über die Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft
6. Dezember 1992
Europäischer Wirtschaftsraum
Ja: 49.7%
Nein: 50.3%
Bundesbeschluss über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)
8. Juni 1997
Beitrittsverhandlungen nur nach Abstimmung
Ja: 25.9%
Nein: 74.1%
Eidgenössische Volksinitiative «EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!»
21. Mai 2000
Bilaterale Verträge I
Ja: 67.2%
Nein: 32.8%
Bundesbeschluss über die Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft
4. März 2001
Start von Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union
Ja: 23.2%
Nein: 76.8%
Eidgenössische Volksinitiative «Ja zu Europa»
5. Juni 2005
Referendum zu Schengen- und Dublin
Ja: 54.6%
Nein: 45.4%
Bundesbeschluss über die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin
25. September 2005
EU-Erweiterung 2004
Ja: 56%
Nein: 44%
Bundesbeschluss über das Protokoll über die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens auf die neuen EG-Mitgliedsstaaten
26. November 2006
Kohäsionsmilliarde
Ja: 53.4%
Nein: 46.6%
Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas
8. Februar 2009
Fortführung Personenfreizügigkeit und Erweiterung auf Bulgarien und Rumänien
Ja: 59.6%
Nein: 40.4%
Bundesbeschluss über die Weiterführung des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EG sowie über die Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien
9. Februar 2014
Masseneinwanderungs-Initiative
Ja: 50.3%
Nein: 49.7%
Eidgenössische Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung»

Am 9. Februar 2014 platzt in der Schweiz eine Blase. Genauso eine Blase, wie sie auch 2016 mehrmals geplatzt ist; als die Briten im Juni tatsächlich den Brexit beschliessen, als die Amerikaner im November tatsächlich Donald Trump wählen. Die Umfragen haben eine knappes Resultat zur Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) vorausgesagt, die Befürworter mobilisierten in den Wochen davor stark. Trotzdem rechneten nur wenige im Berner Politbetrieb damit, dass die Schweizer der MEI tatsächlich zustimmen würden. «Das ist ein Schlüsselmoment der Schweizer Geschichte», sagt der verdutzte Meinungsforscher Claude Longchamp, der mit seinen Prognosen daneben lag, im Fernsehen.

Auch die SVP trifft der Sieg unvorbereitet. Bevor Toni Brunner vor die Presse tritt, beobachten Journalisten, wie er zuerst mit SVP-Generalsekretär Martin Baltisser und seiner Kollegin Silvia Bär in einem Sitzungszimmer verschwindet, vermutlich, um eine Siegeserklärung zu formulieren. Christoph Blocher zieht sich in ein Berner Hotel zurück und gibt sein «Tele Blocher»-Interview. Der Bundesrat müsse jetzt nach Brüssel fliegen und verhandeln, fordert Blocher, auf Hochdeutsch ausnahmsweise, weil man ihm heute auch im Ausland zuhört.

Unerwarteter Sieger: SVP-Parteipräsident Toni Brunner strahlt am Abend des 9. Februar 2014 in Bern.
Unerwarteter Sieger: SVP-Parteipräsident Toni Brunner strahlt am Abend des 9. Februar 2014 in Bern.Bild: Keystone

Um 17.30 Uhr treten Justizministerin Simonetta Sommaruga und Bundespräsident Didier Burkhalter vor die Medien, souverän lächelnd. «Das ist Demokratie», sagt Sommaruga und verspricht, der Bundesrat werde die Initiative rasch und konsequent umsetzen. Die ersten Reaktionen aus der EU lassen nicht lange auf sich warten. «Mit diesem Ergebnis haben sich die Eidgenossen erst mal von Europa verabschiedet», lässt der deutsche EU-Parlamentarier Andreas Schwab verlauten. «Die bilateralen Abkommen müssen nun gekündigt werden.» Die offizielle EU «bedauert» den Entscheid.

Manche gewinnen dem Drama auch eine positive Seite ab. Das jahrelange Durchwursteln in der EU-Frage, die nie über die nächste Abstimmung hinaus behandelt wurde, ist vorbei. Die Schweizer haben sich in eine Lage manövriert, die sie immer vermeiden wollten: Sie müssen eine Grundsatzentscheidung fällen. «Das Resultat schafft immerhin Klarheit», schreibt der Historiker Thomas Maissen am folgenden Donnerstag in der Weltwoche. «Das Schweizer Volk hat den Bilateralismus beerdigt, den auch die EU nicht mehr wollte. Von nun an heisst es: Souveränität oder EU-Mitgliedschaft.»

Vor der Elefantenrunde: SVP-Präsident Toni Brunner und FDP-Präsident Philipp Müller werden fürs Fernsehen poliert, 9. Februar 2014.
Vor der Elefantenrunde: SVP-Präsident Toni Brunner und FDP-Präsident Philipp Müller werden fürs Fernsehen poliert, 9. Februar 2014.Bild: Keystone

Vielleicht ist der 9. Februar 2014 auch ein fernes Echo vom 6. Dezember 1992, dem Tag, an dem sich die Schweizer letztmals entscheiden mussten, ob sie ein Stück Unabhängigkeit opfern wollen, um näher an Europa zu rücken. 50,3 Prozent stimmten damals gegen den EWR, genau so viele wie am 9. Februar die MEI annehmen. Es ist, als ob die Schweiz 22 Jahre die Europafrage umkreist hat, nur um wieder am selben Punkt zu landen. Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem: Wie geht es von hier an weiter?

* Die Padruzzis sind eine fiktionale Familie.

Transparenz in Sachen Polit-NativeAds 
Die Serie «Schweiz – EU» ist ein NativeAd der vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse koordinierten Kampagne «stark + vernetzt» für den Erhalt des bilateralen Weges mit der Europäischen Union. Die Chefredaktion von watson hat dem Auftragsverhältnis mit Economiesuisse in Zusammenhang mit der Serie «Schweiz – EU» unter folgenden Überlegungen und Bedingungen zugestimmt: Das politische Anliegen entspricht der redaktionellen Linie von watson, der verantwortliche Journalist ist von watson beauftragt, aber nicht Teil der watson-Redaktion und unterhält keinerlei wirtschaftliche Beziehungen zu Akteuren von «stark + vernetzt», die Auftraggeberin hat ausschliesslich bezüglich des Publikationszeitpunktes Mitsprache-Recht und darf weder mit dem von watson beauftragten Journalisten noch anderen Mitgliedern der watson-Redaktion kommunizieren und das NativeAd muss den watson-Userinnen und -Usern einen klaren Erkenntnismehrwert bezüglich der Beziehungen Schweiz – EU bringen. (thi)  

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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Thomas Bollinger (1)
30.01.2017 23:01registriert Juli 2015
Ich bin vor allem dankbar für den Vergleich mit Brexit und Trump. Vergessen geht oft in der ganzen Häme gegen UK und USA, dass 50.3% der Schweizer auch so gewählt hätten. Seit 25 Jahren.
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Jupiter Jones
30.01.2017 14:04registriert September 2016
Spätestens wenn Economiesuisse eine Kampagne ins Leben ruft, um ihre Ansichten zur Beziehung der Schweiz mit der EU zu verbreiten, spätestens dann sollten sich auch linke und wirtschaftskritische Zeitgenossen langsam aber sicher mit der Frage auseinandersetzen, ob man einer immer stärkeren Anbindung der Schweiz an die EU wirklich weiterhin so unkritisch gegenüberstehen will.
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Amboss
30.01.2017 15:08registriert April 2014
Manche nennen unser Beziehungen zur EU ein "mühseliges Durchwursteln".
Ich bin der Meinung, es ist das Allerbeste, was die Schweiz machen kann.

Dank der Bilateralen sind wir da bei der EU beteiligt, wo es wichtig ist. Wir haben keinerlei Nachteile, aber jederzeit die Möglichkeit, die Notbremse zu ziehen.

Besser könnte es nicht sein. Sich auf irgendeine Seite festzulegen ist schlichtweg nicht nötig, gerade weil man nicht weiss, wie sich die EU entwickelt.

Dieses Ja zur MEI inkl. der "Umsetzung" zeigt letztlich genau auf, was die Bevölkerung will. Eigenständig bleiben, Bilaterale beibehalten
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