«Don’t ask, don’t tell» war eine Schummel-Formel, mit der die amerikanische Armee stillschweigend homosexuelle Soldaten akzeptierte, ohne sie offiziell zu anerkennen. Das ist inzwischen geschehen. Doch nun stellt sich in den USA die Frage, ob «Frag nicht, nun sag nichts» auch zwischen einem Mitglied des Obersten Gerichtshofes und seiner Frau gelten soll. Und das kam so:
Clarence Thomas ist seit 1991 Mitglied des Supreme Court. Seine Ernennung war umstritten. Anita Hill, eine frühere Untergebene, hatte ihn der sexuellen Belästigung beschuldigt. Thomas ist auch streng katholisch und äusserst konservativ. Er wollte ursprünglich Priester werden und war einst Anhänger der libertären Schriftstellerin Ayn Rand.
Donald Trump wollte bekanntlich mit allen Mitteln verhindern, dass das Archiv des Weissen Hauses Dokumente rund um den Sturm des Kapitals herausgibt. Er prozessierte so lange, bis das oberste Gericht entscheiden musste. Es tat dies im vergangenen Januar und entschied gegen Trump – mit einer Gegenstimme, derjenigen von Thomas.
Das fand zunächst kaum Beachtung, schliesslich war die Gesinnung von Thomas allgemein bekannt. Doch nun haben Bob Woodward und Robert Costa in der «Washington Post» brisante Textbotschaften enthüllt, welche die Frau von Thomas an Mark Meadows, den ehemaligen Stabschef von Trump, geschickt hat.
Virginia «Ginni» Thomas ist eine bekannte Figur der sehr rechten Szene. Sie lobbyiert seit Jahrzehnten für konservative Anliegen und sammelt Geld für sie. Am 6. Januar 2020 nahm sie an der berühmt-berüchtigten Demonstration in Washington teil. Weil es ihr zu kalt wurde, ging sie allerdings noch vor dem Sturm aufs Kapitol nach Hause.
Wenige Tage danach wurde Ginni Thomas aktiv. Sie sandte eine ganze Reihe von Text-Botschaften an Mark Meadows. Zu sagen, deren Inhalt sei explosiv, ist untertrieben. Sie sprach von den Bidens als einer «kriminellen Familie», welche nach Guantanamo geschickt werden müsse. Sie wiederholte die Trump’schen Lügen der Wahlfälschung und der QAnon-Verschwörungstheorie, wonach die echten Wahlzettel mit Wasserzeichen geschützt worden seien.
Frau Thomas forderte den Stabschef explizit auf, alles zu unternehmen, damit Trump im Weissen Haus bleiben würde, sprach in apokalyptischen Tönen über das Schicksal der USA («We are living through what feels like the end of America») und forderte gar das Blut des ehemaligen Vize-Präsidenten Mike Pence.
Das alles gipfelte in der dramatischen Feststellung: «Biden und die Linke sind im Begriff, den grössten Raubüberfall unserer Geschichte durchzuführen.»
Die Textbotschaften der Ginni Thomas wurden zunächst vom Meadows dem Komitee zur Abklärung der Ereignisse des 6. Januars zugestellt. Nun hat sie die «Washington Post» öffentlich gemacht und damit die Integrität von Richter Thomas infrage gestellt und zu Fragen geführt wie: Wie weit hat Thomas sich von seiner Frau beeinflussen lassen? Muss er künftig bei Urteilen in Sachen Trump in den Ausstand treten? Muss er gar zurücktreten?
Das Ehepaar Thomas beschwört zwar, es gebe zwischen ihnen keinerlei Gespräche, wenn es um Angelegenheiten des Supreme Courts gehe. So richtig glauben mag dies jedoch niemand. Koryphäen der Jurisprudenz erklären deshalb, Thomas müsse zumindest künftig in Ausstand treten, wenn es um Trump und dessen Interessen gehe.
Einer dieser Experten ist Stephen Millers, Rechtsprofessor an der New York University. «Ginni hat eine rote Linie überschritten», erklärte er gegenüber dem «New Yorker». «Clarence Thomas darf künftig nicht mehr mitentscheiden, wenn es um den Sturm aufs Kapitol oder die Arbeit des Ausschusses vom 6. Januar geht.» In der «New York Times» fordert derweil Jesse Wegman bereits den Rücktritt von Thomas.
Weder Thomas noch seine Frau haben sich bisher geäussert. Der 74-jährige Richter erholt sich derzeit von einer Krankheit, die jedoch nicht lebensgefährlich sein soll.
Die Affäre um Ginni Thomson und ihre Text-Botschaften ist ein weiterer trister Meilenstein in der Politisierung des höchsten Gerichts in den USA. Eigentlich müsste das Gremium strikt überparteilich arbeiten. Um diesem Anspruch nachzukommen, werden die Mitglieder auch auf Lebenszeit gewählt. Inzwischen ist dieser Anspruch jedoch lächerlich geworden.
Angefangen hat diese Politisierung mit Robert Borke. Diesem vom damaligen Präsident Ronald Reagan nominierten, äusserst konservativen Richter wurde 1987 von einer Mehrheit der Demokraten der Einzug in den Supreme Court verwehrt. Er rächte sich, indem er der geistige Vater der «federal society» wurde, einem Club von konservativen Juristen. Heute hat die «federal society» einen grossen Einfluss auf die Wahl der von Republikanern vorgeschlagenen Richter.
Die eigentliche Schlammschlacht hat jedoch Mitch McConnell losgetreten. Als Mehrheitsführer im Senat hat er den von Barack Obama vorgeschlagenen Merrick Garland auf skandalöse Art und Weise verhindert. Garland ist inzwischen Justizminister. Später hat McConnell in den letzten Wochen der Trump-Ära in Windeseile Amy Coney Barrett durchgepeitscht und den Republikanern somit zu einer 6-zu-3-Mehrheit verholfen.
Derzeit wird im Senat über die Berufung von Ketanji Brown Jackson verhandelt. Obwohl die Fähigkeiten dieser schwarzen Richterin über jeden Zweifel erhaben sind – sie ist bereits vom Senat als Federal Judge mit grosser Mehrheit bestätigt worden – haben die Republikaner das Anhörungsverfahren in eine Schmierenkomödie verwandelt und Jackson eine vermeintliche Milde gegenüber Kinderpornografie angedichtet.
Anders als Politiker haben die Mitglieder des Supreme Court lange grossen Respekt in der amerikanischen Bevölkerung genossen. Die zunehmende Politisierung hat diesen Respekt fast vollständig vernichtet. Das oberste Gericht ist, wie mittlerweile fast alles in den USA, zum Spielball der Parteien geworden – und es wächst die Einsicht, dass eine grundlegende Reform dringend nötig geworden ist.