Noch vor wenigen Jahren wären Jodlerchörli in der Schweizer Hitparade undenkbar gewesen. Zu verstaubt, zu volkstümlich, zu altmodisch. Doch seit einigen Wochen besetzen gleich drei Alben mit urchigem Schweizer Gesang die vordersten Plätze: Mehr noch: Heimweh mit «Blueme», Gölä mit «Urchig» und der Jodlerklub Wiesenberg mit «Land ob de Wolke» sind die erfolgreichsten Schweizer Produktionen.
Alle drei haben Platinstatus für 20000 verkaufte Einheiten erreicht. Etwas, das heute nur noch ganz wenige erreichen. «Blueme» sogar schon eine Woche nach der Veröffentlichung. Gleichzeitig ist das erste Album, «Heimweh», von 2016 sogar mit Doppel-Platin ausgezeichnet worden. Seit über einem Jahr ist es ununterbrochen in den Top 40 der Schweizer Albumcharts platziert.
Man kann von einem neuen musikalischen Genre sprechen. Nennen wir es «Jodelchörli-Pop». Das Rezept: Man nehme einen Männerchor und lasse ihn einen Popsong singen. Garniere ihn mit volkstümlichen Elementen wie Jodel oder Instrumenten wie Akkordeon. Fertig!
Noch einfacher geht's mit alten Hits. Auf dem neuen Album von Heimweh sind es «Blueme» von Polo Hofer sowie das populäre Volkslied «Stets i truure». Dazu kommen englische Hits. «Sweet Child o’Mine» von GunsN’Roses wird zu «Als wärs geschter gsi» und «Run Baby Run» von Cheryl Crow zu «Gang Meitschi gang» verwurstet.
Dieter Ringli, Professor für Volksmusik und Musikgeschichte an der Hochschule Luzern, freut sich über den Aufschwung und die neue Popularität der Schweizer Volksmusik. Sie bewegt sich, verändert sich und nimmt neue, genrefremde Elemente auf. Schweizer Volksmusik lebt.
Noch in den 1990er-Jahren war der Aufschrei in der Volksmusik-Szene gross, als Christine Lauterburg ihren Jodel mit technoiden Klängen mischte. «Heute beklagt niemand mehr den Verrat an der ‹ächten› Volksmusik. Das ist vorbei», sagt Ringli. Die Szene selbst hat sich verändert und ist kein Klub von Hinterwäldlern mehr.
Eigentlich freut sich Ringli auch über den Hype um den Jodelchörli-Pop. Die Jodlerchöre werden wieder zur Kenntnis genommen. Ihr Stellenwert ist gestiegen, und indirekt profitieren auch die traditionellen Jodlerclubs von der Hitparade-Sensation. Und doch kann sich Ringli mit dem neuen Genre des Jodelchor-Pop nicht anfreunden.
Angefangen hat alles vor rund zehn Jahren in Nidwalden. Der Jodlerklub Wiesenberg, der sich seit über 30 Jahren dem Naturjuuz verschrieben hat, wollte seinen Präsidenten zu seiner Heirat mit der Jodelversion von «Ewigi Liebi» der Band «Mash» überraschen. Prompt wurde aus der spontanen Idee ein nationaler Hit: «Ewigi Liäbi» hat das Genre mit Jodelchor und Popsong begründet. «Das war noch erfrischend und überraschend», sagt Ringli.
Der unerwartete Erfolg hat aber sofort die Musikindustrie auf den Plan gerufen. Gemäss Ringli war schon «Das Feyr vo dr Sehnsucht», die Kooperation der Wiesenberger mit Schlagersängerin Francine Jordi, ein musikindustrieller Reflex, der die Amateurjodler überfordert und den Jodlerklub fast zerrissen hat.
In der Beurteilung und Einordnung der Gruppe Heimweh ist der Volksmusik-Experte hin- und hergerissen. Dem Initiator, Georg Schlunegger von Hitmill, bescheinigt er eine clevere Strategie, die auf kommerziellen Erfolg getrimmt ist. Die Aushängeschilder Beny Betschart und Frowin Neff stehen für Authentizität und das vermeintlich «Ächte».
Der Appenzeller Neff ist ein bekannter Appenzeller Akkordeonist, und Betschart ist gemäss Ringli der wohl beste Muotathaler Jodler. Er ist mit dem Naturjuuz aufgewachsen, gibt Jodelkurse und singt in verschiedenen eigenen Formationen. Die anderen Sänger haben aber wenig mit Volksmusik zu tun. Dafür treten sie in Trachten auf und werden nur mit Vornamen vorgestellt. «Damit wird betont, dass es Leute aus dem Volk sind», sagt Ringli.
In der Geschäftsstrategie spielt das Zielpublikum die zentrale Rolle. «Heimweh ist ein Nostalgie- und Retro-Produkt, das mit den Sounds und Hits der 80er-Jahre Leute anspricht, die damals jung waren», sagt Ringli. Eine Rückbesinnung auf traditionelle, einfache Formen und den klassischen Popsong.
Ins Konzept passt auch der Titelsong «Blueme». Wenig originell, denn der Song wurde zuvor schon vom Jodlerklub Wiesenberg sowie den Bündner Spitzbueba mit dem Jodlerklub Sängertreu Siebnen gecovert, aber nach dem Tod des Mundart-Pioniers umso verkaufsfördernder.
Der Hitmill-Produzent nutzt geschickt den Zeitgeist, der schon dem Sänger Trauffer zu kommerziellen Höhenflügen verhalf. Der Erfolg von Heimweh deckt sich mit der neu entdeckten Schwingfest-Begeisterung und Swissness-Euphorie.
In Texten von Liedern wie «Dazumal», «Als wärs geschter gsi», «Drhäime» und «Hie chumi här» werden konservative Werte in einer heilen Welt zelebriert, die mit Vorliebe in die Vergangenheit weisen: «S Läbe hets guet mit mir gmeint, für Momente vo Glück und Zvredeheit». Insofern markiert der Jodelchörli-Pop eine Re-Ideologisierung. Er kann als eine Fortsetzung des volkstümlichen Schlagers gesehen werden, der in letzter Zeit an Stellenwert verloren hat.
«Das Geschäftsmodell funktioniert. Hitmill hat alles richtig gemacht. Der Erfolg gibt Schlunegger recht», sagt Dieter Ringli. Bei den Swiss Music Awards in diesem Jahr wurden Heimweh denn auch gleich zweimal ausgezeichnet und zur «besten Schweizer Band» gekürt. Mit der Qualität von Heimweh hat Ringli mehr Mühe. «Die Musik ist ultrabillig gemacht. Ein einfach gestricktes Industrieprodukt, das mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel herausholen will. Ohne Überraschungen und vom ersten Ton an absehbar.»
Dazu werde die Volksmusik gar nicht erneuert oder modernisiert. Stattdessen greife Schlunegger auf bekannte Elemente zurück, die wenig mit Schweizer Volksmusik zu tun hätten. Im Gegensatz zu den Wiesenbergern und ihrer Mischung aus Jodelliedern und Naturjodel sei Heimweh kein Jodlerchor, sondern ein Männerchor. «Der Jodel ist nur exotisches Beigemüse», sagt Ringli und bezweifelt, dass der Trend nachhaltig ist. «Ich verstehe nicht so recht, was ein Beny Betschart in diesem Chor verloren hat», sagt Ringli.
Und was ist mit Gölä und seinem Album «urchig», auf dem er seine grössten Hits mit Jodelchörli garniert? «Klanglich ist Gölä näher bei der Volksmusik, bleibt aber auch sehr langweilig», sagt Ringli. Der Berner Sänger habe es «nie mehr wirklich geschafft, an die grossen Erfolge aus seiner Anfangszeit anzuknüpfen». «Gölä hat früher eine originelle Frische ausgezeichnet, heute ist er nur noch peinlich», sagt Ringli.