Es wäre ein Novum: Noch nie zuvor wurde in der Schweiz die Volksinitiative einer Gewerkschaft angenommen. Allerdings könnte sich das mit den Abstimmungen am 28. November nun ändern. Die Vorlage «Für eine starke Pflege» vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) hat bei der ersten SRG-Trendumfrage 78 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Das gab das verantwortliche Umfrageinstitut gfs.bern am Freitag bekannt.
Beim SBK ist man erfreut über die hohe Zustimmung. Geschäftsführerin Yvonne Ribi sagt: «Es zeigt, dass dem Volk eine starke Pflege wichtig ist.» Mit der Initiative soll der Pflegeberuf via Verfassungsartikel gestärkt werden, etwa durch verbesserte Arbeitsbedingungen und angemessene Entschädigung. In der gfs-Umfrage hätten bloss 15 Prozent der Befragten Nein zu diesem Vorhaben gesagt.
Beachtlich ist dieses Umfrageresultat auch deshalb, weil die Initiantinnen noch nicht einmal mit der eigentlichen Kampagne gestartet haben. watson hat mit dem Co-Leiter des Umfrageinstituts gfs.bern, Lukas Golder, telefoniert und ihn nach den Gründen für die hohe Zustimmung gefragt.
Der Pandemieausbruch habe den Weg für die Pflegeinitiative maximal geebnet, sagt Co-Leiter von gfs.bern Lukas Golder. «Die Coronapandemie war die grösstmögliche Vorkampagne, die man für eine Initiative haben kann.» Die Pandemie hätte nicht nur den Pflegenotstand in der Schweiz hervorgehoben, sondern auch den in anderen Ländern.
Auch, dass während des Lockdowns im Frühjahr 2020 für das Pflegepersonal geklatscht wurde, hatte einen Einfluss. «Mit der Applauswelle ist die Sonderrolle der Pflege und ihre Bedeutung in der Bevölkerung sichtbar geworden», sagt Golder.
Durch die Vorkampagne gebe es nun bereits ein Bewusstsein für die Problematik, die die Initiative aufgreifen will. Das sei zwar nicht auf ein Kalkül der Initianten zurückzuführen, sagt Golder. «Doch es kommt ihnen jetzt zugute, wie man in den Umfrageresultaten sieht».
Jeder war schon einmal auf die Hilfe einer Pflegefachperson angewiesen. Entweder, weil eine angehörige Person sie benötigte oder weil man selber nicht ohne ausgekommen wäre. Dadurch sei die Arbeitssituation in dieser Branche auch allen ungefähr bekannt, so Golder. «Es ist keine abstrakte Vorlage wie etwa beim Grundeinkommen. Was die Pflegeinitiative anspricht, bewegt uns in unserem Alltag.»
Besonders der Anfang der Pandemie habe Emotionen geweckt. Man sah die Bilder von IPS-Stationen, von Leuten, die beatmet werden mussten und man sah das überarbeitete Pflegepersonal. Dass man selber in diese Situation geraten könnte, löst etwas aus. «Angst, die besonders während den Anfängen der Pandemie präsent war, ist ein Katalysator für Aufmerksamkeit», so Golder.
Dass die Leute das Pflege-Problem nun als akut ansehen, zeige sich in der Umfrage. So zum einen bei den Gegenargumenten: «Die Aussage, dass die Schweizer Löhne im Vergleich zur EU höher seien und deshalb nicht mehr für die Pflege getan werden müsse, wurde heftig verworfen», sagt Golder. Zum anderen hätten die Befragten Pro-Argumente, dass etwa bessere Arbeitsbedingungen Berufsausstiege vorbeugen würden, stark unterstützt.
Dass die Coronapandemie andauert, mache die Problematik weiterhin greifbar, sagt Golder. «Die Diskussion über die Vorlage ist geprägt vom momentanen Zustand. Dadurch rücken die Schwächen, Details oder Problempunkte der Vorlage in den Hintergrund.» Auch, dass die Abstimmung noch während der Pandemie stattfinde, rahme das Problem entsprechend.
Allerdings könne das für die Initiative wie auch für den Gegenvorschlag sprechen. Dieser will das Problem der Pflege auf Gesetzesebene lösen: Bis zu einer Milliarde Franken soll etwa in Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften investiert werden. «Auch der Gegenvorschlag mit dem unmittelbaren Nutzen als Vorteil gegenüber der Initiative könnte noch in den Vordergrund rücken», sagt Golder.
So oder so sei die Problematik nicht mehr wegzudiskutieren, schliesst der Experte aus den Umfragen. Zu gross sei das Bewusstsein unter den Befragten, dass der Pflegenotstand nicht mit der Pandemie wieder verschwinden würde.
15 Prozent hätten gemäss Umfrage von gfs.bern die Pflegeinitiative abgelehnt. Die Ablehnung hätte sehr wohl höher ausfallen können: Die Kampagne gegen eine Initiative sei eigentlich die einfachste, sagt Golder. «Zu Beginn sind die Leute bereit, eine Idee zu diskutieren, aber am Schluss stehen nur noch die Probleme im Vordergrund, die die Initiative auslösen könnte.» Das würde sich die Gegenkampagne für gewöhnlich zunutze machen. «Deshalb ist es auch bemerkenswert, dass das noch nicht passiert ist», so Golder.
Es ist nicht so, dass niemand gegen die Pflegeinitiative wäre. Im Gegenteil, es sind sogar schwergewichtige Player: Neben dem Bundesrat und der Mehrheit im Parlament wollen auch SVP und FDP die Initiative bekämpfen. Ihnen geht die Vorlage zu weit und sie unterstützen stattdessen den Gegenvorschlag.
Bis jetzt hielt sich die Initiativ-Gegnerschaft allerdings zurück. Das dürfte sich bald ändern: Am Freitagmittag berichtete der «Blick» von einem überparteilichen Nein-Komitee, zu dem Politiker der SVP, der FDP und der Mitte-Partei zählen. Darunter ist etwa der Walliser FDP-Nationalrat Philippe Nantermod. «Die Bundesverfassung ist nicht dazu da, um die Löhne einer Berufsgruppe zu regeln», erklärte er gegenüber der Zeitung.
Mit genau diesem Argument des FDP-Nationalrates dürfte die Gegenseite bald Druck machen. Damit rechnet gfs-Co-Leiter Golder. «Das Argument, dass durch die Initiative eine Berufsgruppe in der Verfassung bevorzugt würde, wird in den Vordergrund rücken.» Eine weitere Hürde für die Pflegeinitiative sei ausserdem das Ständemehr: Auch die einzelnen Kantone müssen mehrheitlich Ja zur Vorlage sagen. «Das könnte für die Initiantinnen zum Problem werden», so Golder.
Es ist schon oft vorgekommen, dass Vorlagen mit anfänglich guten Umfragewerten dann doch an der Urne abgeschmettert wurden. Das weiss auch SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi. «Wir werden uns deshalb bestimmt nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern bis zur Abstimmung für ein Ja kämpfen.»
Das Initiativkomitee plant, nächste Woche mit der Kampagne zu starten. Geplant sind neben Plakaten auch Standaktionen, Flyer und mehrere «Walk of Care»-Kundgebungen in Schweizer Städten.
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