Es sind teilweise schwer zu ertragende Bilder, welche die Überwachungskameras auf dem Maagplatz beim Zürcher Prime Tower am 28. Februar aufzeichneten. Vor dem Cup-Halbfinale zwischen den beiden Zürcher Fussballclubs haben sich Anhänger der Grasshoppers dort versammelt, um gemeinsam über die Duttweilerbrücke zum Letzigrund zu marschieren.
Doch noch bevor sich die Gruppe in Gang setzt, rennen mehrere Dutzend vermummte Personen vom Bahnhof Hardbrücke her auf den Maagplatz. Beim Angriff werden unter anderem zwei junge Männer von Unbekannten zu Boden geworfen, mit Faustschlägen traktiert und wiederholt mit Füssen gegen Körper und Kopf getreten. Danach flüchten die bisher unbekannten Täter. Welche Verletzungen die Opfer erlitten haben, ist unbekannt. Keines von ihnen meldete sich bei der Polizei.
«Mit der Veröffentlichung der Bilder erhoffen wir uns in erster Linie Hinweise, die zur Verhaftung der Täter führen», sagt der zuständige Staatsanwalt Edwin Lüscher zu watson. Die Staatsanwaltschaft hoffe aber auch auf einen Nebeneffekt: «Wir wollen, dass man sich wieder Gedanken über die Fangewalt macht und damit eine Diskussion entfachen», ergänzt er. Gehe es so weiter wie jetzt, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis es Schwerverletzte oder Tote gebe.
Lüscher stellt in jüngster Vergangenheit eine Eskalation der Gewalt zwischen den Fanlagern von GC und dem FCZ fest. Auch die Häufung solcher Vorfälle habe zum Entscheid beigetragen, die Videobilder zu veröffentlichen. Ein Blick in die Chronologie der letzten zwei Jahre zeigt, dass die Wahrnehmung des Staatsanwalts auf Tatsachen basiert.
Beim Bahnhof Stadelhofen geraten GC- und FCZ-Fans aneinander und es kommt zu einer Schlägerei. Alain Brechbühl, Projektleiter bei der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen an der Uni Bern, interpretiert diesen und andere Vorfälle, ausserhalb der Stadionnähe und teilweise nicht einmal an Spieltagen, als mögliche Reaktion auf die verschärften rechtlichen Bestimmungen und Sicherheitsvorkehrungen rund um die Stadien.
Nach dem Spiel GC-FC Thun gehen vor dem Letzigrund rund 40 FCZ-Anhänger teilweise mit Metallstangen auf GC-Fans los.
Vor dem GC-Fanlokal «Sächs Foif» im Kreis 5 kommt es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Anhängern der beiden Clubs. Vier Personen werden verletzt.
An diesem Samstag ist das «Sächs Foif» an der Heinrichstrasse erneut Schauplatz eines gewalttätigen Streits. Am Nachmittag greifen FCZ-Fans einen 22-Jährigen mit einem Messer an und verletzen ihn schwer. Zwei Tatverdächtige werden kurz darauf verhaftet. Auch der Verletzte und zwei GC-Fans werden später am Tag festgenommen.
Am Bahnhof der Gemeinde Fehraltorf im Zürcher Oberland treffen zwei 17-jährige GC-Fans auf eine Gruppe FCZ-Anhänger. Die GC-Fans versuchen zu fliehen, worauf ihnen ein Auto mit fünf Männern entgegenkommt. Die Insassen des Wagens steigen aus und verlangen die Schals und Jacken der GC-Fans. Sie schlagen den einen Teenager und bedrohen den anderen mit einem Messer. Nachdem sich Passanten nähern, flüchten die Angreifer unerkannt in ihrem Auto.
Nach der Rückkehr vom Auswärtsspiel gegen den FC Sion begeben sich rund 100 GC-Anhänger um 3 Uhr morgens zum Kulturzentrum Dynamo an der Limmat, wo FCZ-Fans am Feiern sind. Es kommt zu einer Massenschlägerei mit Einsatz von Eisenstangen. Ein 25-Jähriger wird mittelschwer verletzt.
Nach ihrem Heimspiel gegen YB sind GC-Anhänger auf dem Weg zum Fanlokal «Sächs Foif», als es bei den Viaduktbögen im Kreis 5 zu einem Angriff von rund einem Dutzenden vermummten FCZ-Fans kommt. In der darauf folgenden Schlägerei gehen die Gruppen mit Stühlen und Tischen aufeinander los. Mehrere GC-Fans werden verletzt und müssen sich in Spitalpflege begeben.
Das 248. Zürcher Derby (4:0-Sieg für GC) wird als eines der ereignisreicheren in die Geschichte eingehen – neben dem Platz. Vor Spielbeginn wollen Fans beider Clubs aufeinander losgehen, was die Polizei mit Tränengas und Gummischrot unterbindet. Nicht verhindern kann sie jedoch, dass ein 14-Jähriger beim Letzigrund von mehreren unerkannten Tätern mit Faustschlägen und Fusstritten gravierend verletzt wird. Am Abend kommt es zu Krawallen rund um den Limmatplatz, bei denen eine Polizistin von einem Geschoss am Kopf verletzt wird. Die Polizei verhaftet zehn Personen vorübergehend.
Als sich ein Dutzend Mitglieder der GC-Fangruppierung Blue White Bulldogs an einem Montagabend in einer Turnhalle in Zürich-Leimbach zum Kampfsport-Training treffen, werden sie von etwa 30 Mitgliedern der FCZ-Gruppierung Outcast Society angegriffen. Danach werden den GC-Fans Wertgegenstände aus der Garderobe gestohlen. Laut «Tages-Anzeiger» könnte der Angriff eine Reaktion auf ein überspraytes Graffiti sein, welches an ein verstorbenes Mitglied der Südkurve erinnert hatte.
Wie am Beginn des Artikels beschrieben: FCZ-Anhänger greifen GC-Fans an, die sich für den Marsch zum Letzigrund versammelt haben.
Was die konkreten Ursachen für die Eskalation seien, wisse er «schlicht nicht», sagt Staatsanwalt Edwin Lüscher, der sich schon mit mehreren Delikten im Umfeld der Zürcher Fanszenen befasst hat. Als generelle Ursachen sieht er «die Verrohung der Gesellschaft und der mangelnde Respekt gegenüber Anderen, gegenüber Andersdenkenden.»
Für den Sportwissenschafter Alain Brechbühl geht es «bei Fangewalt teils auch um Macht, um die Darstellung von Macht». Dieses Verhalten von Fangruppen finde sowohl gegenüber der Polizei, dem Sicherheitsdienst im Stadion als auch gegenüber den Anhängern rivalisierender Clubs statt. «In Zürich scheint dieser Wettstreit um die Vormachtstellung zwischen den Fans von GC und dem FCZ in eine offene Auseinandersetzung eskaliert zu sein.»
Weil er die genauen Umstände zu wenig gut kennt, will Brechbühl keine Aussagen über allenfalls unterschiedliche Rolle der Anhänger der beiden Vereine in der derzeitigen Eskalation machen. Auch Staatsanwalt Edwin Lüscher meint, er sehe keine grundsätzlichen Differenzen: «Allerdings ist die Fanszene des FCZ insgesamt grösser und aktiver als jene von GC.»
Für eine Deeskalation der Situation in Zürich liefere die Forschung keine massgeschneiderten Lösungen, sagt Alain Brechbühl. Lehren bieten Beispiele aus England. Es könne hilfreich sein, wenn die Polizei generell Dialogbereitschaft signalisiere und so eine Vertrauensbeziehung mit normalerweise friedfertigen, aber «möglicherweise situativ gewaltbereiten» Fans aufbaue. «Wenn sich die grosse Mehrheit der Fans nicht in denselben Topf wie die ‹gewaltsuchenden Fans› geworfen fühlt, steigert dies die wahrgenommene Legitimität der Polizei. Dann sind diese Fans eher bereit, sich von gewalttätigen Anhängern zu distanzieren.»
Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Fahndungserfolge: «Ein solches Vertrauensverhältnis kann dazu beitragen, dass aus der Fanszene Hinweise über geplante gewalttätige Aktionen an die Polizei gelangten», sagt der Sportwissenschaftler.
Doch noch viel entscheidender als das Verhältnis zwischen Fans und Polizei ist es laut Brechbühl, «eine positive Fankultur zu etablieren». Jenem überwältigend grossen Anteil der Fussballfans, die sich absolut korrekt verhielten, müsse die Möglichkeit geboten werden, «ihre soziale Identität als Fussballfans» zu leben. Dafür brauchten sie einen Rahmen, in welchem sie ihre Subkultur ausleben könnten. (cbe)