Gut Ding will Weile haben. Eine Redewendung, die auf Jonathan Tah zutrifft. Als Junior wurde der heute 28-jährige Verteidiger als deutsche Zukunftshoffnung gehandelt, als eine Art Jérôme Boateng 2.0, dem nicht nur im Verein, sondern auch in der Nationalmannschaft eine rosige Zukunft bevorsteht. Über ein Jahrzehnt später führt Tah Leverkusen nun als Leaderfigur zum ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte und spielt die wohl beste Saison seiner Karriere. Und viele fragen sich, wie es die Autoren des Zeitonline-Podcasts «Kicken kann er» ausdrücken: «Warum erst jetzt, Jonathan Tah?»
Tah führt angeblich ein Erfolgstagebuch. Jeden Morgen schreibt er auf, was er an diesem Tag erreichen möchte, am Abend zieht er Bilanz. Was in diesem Tagebuch steht, wissen wir natürlich nicht, aber gut möglich, dass das abendliche Fazit in dieser Saison erfreulicher ist als auch schon, denn aus dem Rohdiamanten ist – mit einigen Jahren Verspätung – einer der Grundpfeiler des Leverkusen-Erfolgs herangewachsen.
Schaute man Tah beim Spielen zu, so beschreiben es die Redakteure des «Zeit online»-Podcasts, habe man sich oft gedacht: «Hoffentlich kommt das gut.»
Tah ist zwar erstaunlich schnell für seine 1,95 Meter. Er ist beweglich und technisch versiert. Aber er ist eben auch fehleranfällig und zuweilen inkonstant.
Der Hamburger war noch nie ein «Highlight-Spieler», keiner, bei dem man sofort an geniale Spielzüge denkt. Was ihn auszeichnete, waren lange Zeit vor allem seine Qualitäten als Leader, seine Loyalität – er spielt bereits seit neun Jahren für Leverkusen – und seine Fairness. Tah holte erst eine rote Karte.
In der aktuellen Saison spielte Jonathan Tah fast jedes Spiel durch und erzielte sechs Tore für die Werkself – so viele wie noch nie. Und genau wie sein Team, das den Spottnamen «Vizekusen» endgültig ablegen konnte, legt Tah plötzlich eine Konstanz an den Tag, die mitverantwortlich dafür ist, dass Leverkusen seit nunmehr 44 Spielen ungeschlagen ist.
5. Jonathan Tah vs Stuttgart, 90' pic.twitter.com/Fc1zYNsOgW
— TheGriezmannEra(4.19%) (@Madz_1523) April 12, 2024
Eine Abwehr kann man nicht kaufen, die muss man trainieren, lautet eine alte Fussballweisheit, die wohl auch Leverkusens Trainer Xabi Alonso kennt. Dem Spanier, der die Werkself bereits in seiner ersten Saison zum grössten Erfolg der Vereinsgeschichte führte, scheint es gelungen zu sein, aus Jonathan Tah endlich den Spieler herauszuholen, der er eigentlich sein könnte. Über seinen Trainer meinte der 28-Jährige gegenüber Zeit online: «Als Xabi Alonso kam, war ihm auch extrem wichtig, dass die Stimmung in der Kabine gut ist. Dass wir Spass miteinander haben. Wir sind alle hier, weil wir das tun, was wir lieben. Das soll man in jedem Moment spüren.»
Dass die Leistungskurve seit seiner Juniorenzeit nicht steil nach oben, sondern eher wellenförmig verlief, ist auch der Grund, warum der Leverkusen-Verteidiger, der bei seinem Klub einer der Dienstältesten ist, in der deutschen Nationalelf eines der «neuen» Gesichter ist.
Der Hamburger war Captain in der deutschen U17-, der U19- und der U21-Auswahl – danach kam aber einmal lange nichts. 2016 wurde er an der EM zwar für die A-Nationalmannschaft für den verletzten Antonio Rüdiger nachnominiert, zu einem Einsatz kam er aber nicht. Bei den darauffolgenden Turnieren wurde er nicht mehr berücksichtigt. Nun, mit 28 Jahren, kommt er voraussichtlich doch noch zu seinem Nationalelf-Debüt an einem grossen Turnier, denn nach der Übersaison mit Leverkusen flatterte ein Aufgebot von Bundestrainer Julian Nagelsmann ins Haus.
In den Testspielen gegen Frankreich und die Niederlande bildete Tah gemeinsam mit Antonio Rüdiger das Innenverteidiger-Duo und er reitet auf der wieder entfachten deutschen Euphorie-Welle vor der Heim-EM mit. «Die deutsche Nationalmannschaft hat mit Antonio Rüdiger und Jonathan Tah nach vielen Jahren endlich wieder ein überzeugendes Duo in der Innenverteidigung», schrieb Eurosport nach seinem Auftritt.
So hat Jonathan Tah also doch noch die Chance, zu einem Jérôme Boateng 2.0 zu werden – wobei Tah im Gegensatz zum mittlerweile in Italien spielenden Boateng auch neben dem Platz positiv auffällt. Schafft es der Verteidiger, an seine hervorragende Saison anzuknüpfen, so könnte er bei der Euro einer der grossen Sieger werden.