«Ich bin schockiert, ich bin völlig verstört», schreibt das Model Katarzyna Lenhardt, genannt Kasia, am 2. Februar 2021 an ihre Agentur. Kurz zuvor wurden ihr Aussagen aus einem Interview zugeschickt, das ihr Ex-Freund, der Fussballer Jérôme Boateng, der «Bild»-Zeitung gegeben hatte. In dem Interview, das wenig später online gehen wird, spricht der frühere deutsche Nationalspieler von ihrer Trennung. Die «Bild» titelt: «Weltmeister Boateng: ‹Meine Ex wollte mich zerstören!›»
Die Schlagzeile prägt den öffentlichen Blick auf die Beziehung, die etwas mehr als ein Jahr zuvor publik wurde.
Jetzt hat ein Podcast des «Spiegel»-Magazins bisher unveröffentlichte Chatnachrichten und neue Indizien publik gemacht, die die Gewaltvorwürfe gegen Boateng erhärten und das Ausmass des Hasses zeigen, dem Lenhardt nach der öffentlich gemachten Trennung im Netz ausgesetzt war.
Lenhardt und Boateng machen ihre Beziehung Ende 2019 öffentlich. Bereits seit mehreren Monaten sollen sie sich im Geheimen getroffen haben. Boateng hat zu diesem Zeitpunkt drei Kinder, Zwillinge aus der Beziehung zu Sherin Senler und ein Kind mit einer anderen Frau. Auch Kasia Lenhardt, die es in der Castingshow «Germany’s Next Topmodel» 2012 mit 16 Jahren bis ins Finale schaffte, hat einen Sohn. Die beiden werden zum Glamour-Paar.
Ebenfalls im Winter 2019 geht bei der Staatsanwaltschaft München ein Hinweis ein. Der Vorwurf: Körperverletzung. Kurz darauf nimmt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Boateng auf, die zunächst allerdings wieder eingestellt werden, weil Lenhardt nicht aussagen will. Boateng betont seine Unschuld.
Was in ihrer Beziehung mit Jérôme Boateng genau vorgefallen ist, kann man Kasia Lenhardt nicht mehr fragen. Sie war 25, als sie starb. Eine Woche nach dem erwähnten «Bild»-Interview, am 9. Februar 2021, wurde sie in der gemeinsamen Wohnung in Berlin tot aufgefunden, die Behörden gehen von einem Suizid aus. Das eingestellte Verfahren gegen Boateng wurde kurz darauf wieder aufgenommen. Es gilt die Unschuldsvermutung.
25 Stunden Sprachnachrichten hat das Team hinter dem «Spiegel»-Podcast ausgewertet. Darunter sind Nachrichten, in denen Kasia Lenhardt sich mit der Ex-Freundin und Mutter der gemeinsamen Zwillinge von Jérôme Boateng austauscht. Auch zwischen Sherin Senler und Jérôme Boateng läuft seit 2014 ein Verfahren, unter anderem wegen Körperverletzung. Ein Urteil in zweiter Instanz gegen Boateng wurde wegen Verfahrensfehlern aufgehoben – der Prozess wird im Juni neu aufgerollt.
2019 nimmt Lenhardt den Kontakt mit Senler auf, als es bei einer Auseinandersetzung mit Boateng zu einem tätlichen Übergriff gekommen sein soll. «Leider hat er mir fast den Daumen gebrochen», schreibt sie da. In den Chatnachrichten, die dem «Spiegel» vorliegen, sprechen die beiden danach über ähnliche Verletzungen, die ihnen Boateng zugefügt haben soll. Lenhardt will zur Polizei, zuvor aber will sie Boateng konfrontieren. Senler schreibt Lenhardt noch: «Pass auf dich auf.» Später wird diese alle Gewaltvorwürfe gegen Boateng zurücknehmen, zu einer Aussage kommt es nie.
Irgendwann vertraut sich Kasia Lenhardt ihrem privaten Umfeld an. Ihrer Mutter erzählt sie auf einem Spaziergang von einem herausgerissenen Ohrring und weiteren Verletzungen, die Boateng ihr zugefügt haben soll. Lenhardts Mutter sagt ihr, sie müsse sich trennen. In einer Chatnachricht, die im «Spiegel»-Podcast zitiert wird, beendet Lenhardt die Beziehung zu Boateng, scheinbar endgültig.
Kurz darauf folgt ein Post auf Social Media, in dem Boateng bekannt gibt, er habe entschieden, die Beziehung mit Kasia Lenhardt zu beenden. Lenhardt äussert sich noch in einer Instagram-Story, dass sie diejenige gewesen sei, die sich getrennt habe, aufgrund seiner «Lügen und dauernden Untreue». Dann erscheint das «Bild»-Interview, in dem Boateng sagt, Lenhardt habe ihn erpresst und leide an Alkoholismus. Er beschuldigt sie dort, ihm gedroht zu haben, ihn der körperlichen Gewalt zu bezichtigen, um seine Karriere zu ruinieren. Für das Interview wurde die «Bild» vom Presserat gerügt, es wurde mittlerweile gelöscht.
Christina Clemm vertritt als Rechtsanwältin Frauen, die Partnerschaftsgewalt erlebt haben und schreibt als Autorin über den Umgang von Gesellschaft und Justiz mit körperlicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen, Kinder und queere Personen. Vergangenen September erschien ihr Buch «Gegen Frauenhass».
Auch wenn sie zum konkreten Fall von Kasia Lenhardt keine Aussagen machen kann, kennt sie sich mit Ängsten und typischen Verhaltensweisen von Betroffenen von Partnerschaftsgewalt aus. Gegenüber watson sagt sie:
Zwar stand auch Kasia Lenhardt in der Öffentlichkeit, teilte ihr Leben auf Instagram. Das mache diese Personen und insbesondere Frauen aber auch stets angreifbar und setze sie oft «massivem Hass in den sozialen Medien» aus, so Clemm. Frauen, die mit reichen, prominenten Männern liiert sind, seien ausserdem vielen Vorurteilen ausgesetzt.
Kommt es zu einem öffentlichen Zerwürfnis oder werden Gewaltvorwürfe bekannt, liege die Deutungshoheit häufig beim Mann. Auch dann spielten fest verankerte Vorurteile eine wichtige Rolle, allen voran jenes der lügenden Frau:
Natürlich müsse man jeden einzelnen Fall sorgfältig prüfen – wenn zwei Frauen einem Mann Gewalt vorwerfen, sei das noch kein Wahrheitsbeweis. Aber es sollte misstrauisch machen, statt weiterhin den Vertrauensvorschuss zu gewähren, den beschuldigte Männer geniessen, während den Opfern eher misstraut werde. Das sei ein gesellschaftliches Problem, sagt Christina Clemm. Man müsse sich bei solchen Fällen immer fragen:
Dass sogenannte «Spielerfrauen» Schweigen bewahren, wenn ihnen Gewalt angetan wird, ist ein bekanntes Muster, wie eine gemeinsame Recherche von Correctiv und der «Süddeutschen Zeitung» zeigt. Von Einschüchterungs- und Kontrollversuchen erzählt der Podcast auch in Kasia Lenhardts Fall. Für die Frauen geht es um viel: Sie können das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren, fürchten hohe Strafzahlungen, wenn sie Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet haben. Auch Lenhardt hat ein solches Non-Disclosure Agreement, kurz NDA, unterschrieben. Dieses schrieb vor, dass keine privaten Details aus der Beziehung mit Boateng an die Öffentlichkeit gelangen dürften, bei einem Verstoss würde eine Vertragsstrafe drohen.
NDAs, die das Privatleben betreffen, sind unter Fachpersonen umstritten und könnten juristisch kaum geltend gemacht werden. Bei den Betroffenen bleibt eine Restangst vor Konsequenzen. Kasia Lenhardt will sich nach dem «Bild»-Interview dennoch wehren, nach langer Suche findet sie einen Anwalt. Dieser rät ihr, Boateng wegen Körperverletzung und übler Nachrede anzuzeigen. In einer Sprachnachricht an eine Bekannte sagt Lenhardt: «Mich wird das Ganze mein halbes Geld und Erspartes kosten.» Nach dem Vorwurf des Alkoholismus, den Boateng in der «Bild» gegen sie gerichtet hat, hat sie ausserdem Angst, das Sorgerecht für ihren Sohn zu verlieren.
Werden reiche und bekannte Personen mit Gewaltvorwürfen konfrontiert, komme ausserdem hinzu, dass diese oft eine professionelle, rasche Öffentlichkeitsarbeit machen, sagt Christina Clemm:
Kasia Lenhardts Fall ist mehr als ein individuelles Schicksal. Der Fall zeigt, wie die öffentliche Glaubwürdigkeit von Frauen untergraben werden kann. Misogyne – also frauenfeindliche – Narrative der «verrückten Ex» und der «rachsüchtigen Frau» scheinen dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Denn wer glaubt schon einer Verrückten? Mutmassliche Täter können sich dieser Stereotypen bedienen. Dazu kommt, dass wir uns an Partnerschaftsgewalt gewöhnt hätten, sagt Christina Clemm:
Wie gehen wir also mit Todesfällen wie jenem von Kasia Lenhardt um? Gemäss Obduktionsbefund war Kasia Lenhardts Tod ein Suizid. Die mutmassliche Gewalt, die Verleumdungen und der Hass im Netz, die ihrem Tod vorausgingen, werfen jedoch Fragen auf, in welchen Begriffen dieser und ähnliche Fälle gefasst werden. Christina Clemm sagt dazu:
Jérôme Boateng spielt mittlerweile beim italienischen Serie-A-Klub Salernitana. Mehrere Gesprächsanfragen vom «Spiegel» blieben von ihm unbeantwortet. Seine Anwältin teilte gemäss «Spiegel» mit, dass sich viele Sachverhalte gänzlich anders zugetragen hätten. Ihr Mandant lege Wert auf die Feststellung, dass er Kasia Lenhardt zu keinem Zeitpunkt körperlich angegriffen habe.
Im Juni muss sich Boateng wieder vor Gericht verantworten, wenn Senlers Fall neu aufgerollt wird. Kasia Lenhardt hat durch die veröffentlichten Sprachnachrichten zumindest wieder eine Stimme erhalten, um ihre Version der Geschichte zu erzählen.