Kathrin Passig ist Expertin für Internet, Sadomaso und T-Shirts. Und «ganz fertig» von der Schweiz

Hier versuchen wir, Kathrin Passig als Beobachterin des Toni-Areals irgendwie optisch umzusetzen. Wir finden, es ist uns gelungen.Montage: Melanie Gath
Zu Gast bei Ästheten

Kathrin Passig ist Expertin für Internet, Sadomaso und T-Shirts. Und «ganz fertig» von der Schweiz

Die Berlinerin gehört zur internationalen Netz-Prominenz, jetzt arbeitet sie für vier Monate an der neuen Zürcher Hochschule der Künste als «Observer in Residence». Eine Begegnung – mit Leseproben.
03.11.2014, 17:57
Simone Meier
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Bis Weihnachten also schwimmt Kathrin Passig noch jeden Tag in der Limmat, denn schliesslich sei diese so lange mindestens 8 Grad warm, und das sei doch warm genug. Sagt sie. Und spricht sofort von der «Unterströmung des Umzugs», die sie hier in Zürich bis Ende Dezember einfangen soll. Jenen Umzug der Zürcher Hochschule der Künste aufs Areal der alten Toni-Molkerei, nur wenige Blocks weiter stadtauswärts als die watson-Redaktion, dorthin, wo früher einer der besten Zürcher Clubs leuchtete und pulsierte.

Kathrin Passig also. Die Frau, die das Internet zu ihrem Passagenwerk macht. Die Frau, die auf Twitter so prominente Follower hat wie den britischen Schauspieler Stephen Fry und den überintellektuellen Twittergott NeinQuarterly. Die Frau, die selbst zu einer Unterströmung geworden ist und es vermag, Systeme auszuhöhlen, die sich für so dicht und fest halten wie ein Bunker aus Stahl. 2006 nahm sie zum Beispiel in Klagenfurt am Bachmann-Preis teil mit einem Text, den sie extra nur produziert hatte, um den Preis zu gewinnen. Ein Konstrukt. Ein Trojaner. Ein triumphaler Siegertext.

Seither gilt sie auch als «Schriftstellerin». Normalerweise eher als «Sachbuchautorin». Zu Themen wie: das Internet («Internet – Segen oder Fluch»), das Internet («Weniger schlecht programmieren») und das Internet («Standardsituationen der Technologiekritik»), produktive Arbeitsverweigerung («Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin») oder auch gerne Sadomasochismus («Die Wahl der Qual – Handbuch für Sadomasochisten»).

Neulich, irgendwo in Zürich.
Neulich, irgendwo in Zürich.Bild: via Twitter

Ist sie eine Sadomasochistin? Irgendwie gehört sich diese Frage nicht. Ist sie eine Prokrastinatorin? Ja, eine Deadline kommt für sie einer «Nahtoderfahrung» gleich. Romane: Keine. Gedichtbände: Keine. Vorkommen in grossen Büchern grosser Schriftsteller: Ja.

Kathrin Passig gehörte zum innersten Kreis von Wolfgang Herrndorf, sie war ganz fest in seinem Leben, bis er sich am 26. August 2013 erschoss. Weil er nicht mehr warten wollte, bis der Krebs ihn zu Tode frass. Herrndorfs Freunde setzten sich zusammen und beschlossen, dass sie die Welt über Twitter informieren wollten. Kathrin Passig twitterte: «Wolfgang Herrndorf starb nicht am Krebs. Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.» Ein Tweet wie in ein blankes Messer.

Selbst die Toiletten sind schön!

Sie machte das so trocken und sachlich, wie sie sich mit Herrndorf selbst über seine Krankheit unterhalten hatte, nachzulesen ist das in seinem grossartigen Tagebuch «Arbeit und Struktur». Es wurde da klar, dass Kathrin Passig bei aller oberflächlichen Nüchternheit obsessiv ist, in ihren Freundschaften, in ihrer Arbeiten. So, wie sie sich auch jetzt Tag und Nacht mit dem neuen Palast für all die angehenden (und grösstenteils arbeitslosen?) Kulturschaffenden  auseinandersetzt. All die Designer, Tänzerinnen, Fotografen, Musiker, Grafikerinnen.

Sie sind (Berliner) Helden: Kathrin Passig mit Sascha Lobo.
Sie sind (Berliner) Helden: Kathrin Passig mit Sascha Lobo.Bild: Keystone

Kathrin Passig findet an der neuen ZHdK alles schön: «Ich glaube, in der Schweiz kann es gar nichts Hässliches geben. Die schönen Blechmöbel da draussen, da sagen mir die Schweizer immer: aber die stehen doch vor jedem Lokal! Und die Toiletten sind auch wahnsinnig schön! Diese allgegenwärtige Schönheit von allen Gebrauchsgegenständen in der Schweiz, die macht mich immer ganz fertig.» 

Das «Alien»-Gefühl an der ZHdK

Und das sagt eine, die normalerweise nicht in einem Erdloch in einem deutschen Wald lebt, sondern mitten in Berlin. Seit 1991. Seit ihrem 21. Jahr. In Berlin, wo sie mit Sascha Lobo, Holm Friebe und anderen 2002 die Zentrale Intelligenz Agentur gegründet hat. Und 2005 den Weblog Die Riesenmaschine, für den sie 2006 den Grimme Online Award gewann. Und natürlich gibt es auch kathrin.passig.de mit einem Archiv, einem Techniktagebuch und – beinahe fassbar – einem Zufallsgenerator für T-Shirt- Drucke namens Zufallsshirt.

Er ist auf berlinerische Art postironisch, besonders in den –selbstverständlich auch zufallsgenerierten – Produktbeschreibungen: «Am Tage wie in der tiefsten Nacht strahlt dieses Shirt höchste Ziellosigkeit aus. Es verwöhnt nicht nur das Auge, sondern dringt durch die Haut direkt in die menschliche Gefühlswelt ein und schlägt dort sehr archaische Saiten an. Ein edler Saum mit profilierten Nähten rundet den Gesamteindruck vollendet ab.» Zum Beispiel.

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Bild: via zufallsshirt.de

Ihr Job hier in Zürich heisst «Observer in Residence», also eine Beobachterin des kreativen Geschehens im neuen Haus. Sie betreibt dafür seit September einen Twitter-Feed und einen Blog (mit Katharina Nill), und das neue Gebäude auf dem Toni-Areal ist sowas wie ihr Baby geworden, und bei jeder Sekunde Abwesenheit hat sie Angst «schon wieder ein erstes Mal zu verpassen», eine Einweihung, eine Rede, eine Inbetriebnahme.

Ist mehr Masochismus vorstellbar? Ja, am liebsten würde sich Kathrin Passig für ihren Zürcher Auftrag verfünffachen. Und eine von den fünfen dürfte dann vielleicht auch einmal aus dem neuen Haus raus. Weg von ihrer gut versteckten Lieblingswendeltreppe in Pink? Weg von ihrer Lieblingstoilette mit den dunkelblauen Kacheln und den hellgrünen Türen «und diesen schönen Armaturen!»? Weg von der Kantine, deren grün-weisse Plättli alle handgegossen sind? Weg von den Übungskellern der Musiker mit den schmalen Glasschlitzen in den gut 100 Türen, durch die jeweils entspannend bunt gestreifte Vorhänge, ein Instrument und ein Mensch zu sehen sind? Aufgehübschte Klosterzellen der Kreativität. 

Kleiner grüner Kaktus trifft auf grosses graues Treppenhaus.
Kleiner grüner Kaktus trifft auf grosses graues Treppenhaus.Bild: Katharina Nill via Toniblog
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Bild: via Twitter
Finden Sie den Unterschied. So sieht es im grossen Orgelsaal der ZHdK aus...
Finden Sie den Unterschied. So sieht es im grossen Orgelsaal der ZHdK aus...Bild: Angela Leinen via Toniblog

Wirklich weg vom Bistro «Chez Toni» und von der «Mehrspur»-Lounge im Erdgeschoss mit dem geglücktesten Lampendesign von Züri West? Und die Holzverarbeitung des sogenannten Stammtischs in der Eingangshalle! Und der Flugsimulator namens «Birdly»: «Tatsächlich eine der beeindruckendsten Erfahrungen meines Lebens, vor allem, wenn man die abzieht, bei denen Drogen im Spiel waren.»

Aber heute will sie in den Keller. Und eine Holzkiste fotografieren: «Die Schweiz hat so schöne Kisten!» Der Archivar führt uns in den «Kühlschrank», wo alte Filme, Glasnegative und Dias bei 15 Grad bis zu 200 Jahre haltbar sind. In der Bibliothek liegt eine Druckplatte mit Atombabys von HR Giger. Der Archivar erzählt, dass Giger vor vielen Jahren an der ZHdK auch einmal eine Toilettenschüssel designt hätte, und jetzt wären sie verzweifelt auf der Suche nach einem Foto dieser Schüssel. Gewiss wäre auch sie besonders schön. 

Und während wir so an Giger denken, verwandelt sich die ZHdK in die Szenerie von «Alien»: Kathrin Passig ist Ripley, das neue Gebäude ihr Raumschiff und das Monster zugleich. Riesig und fast furchterregend schön. Ein Raum als Welt und Schlund. Und am Ende, in Kathrin Passigs Blog-Einträgen, die auch Logbuch-Einträge von Ripley sein könnten, findet er sich verdichtet wieder, in einer kleinen, aber sich langsam ausdehnende Ecke jenes Weltraums, der sich Internet nennt. 

... und so im «Alien» Raumschiff von Ellen Ripley (Sigourney Weaver). Man beachte das herzige Büsi!
... und so im «Alien» Raumschiff von Ellen Ripley (Sigourney Weaver). Man beachte das herzige Büsi!Bild: Twentieth Century-Fox

Lesen Sie hier Auszüge aus dem «Toniblog »von Kathrin Passig:

Tänzer/innen sehen dich an

Ich stehe mit der fotografierenden Angela Leinen und einem unbekannten Fotografen vor dem Tanzsaal mit dem grossen Fenster. Drinnen gehen die Leute aus der Ausbildung für Zeitgenössischen und Urbanen Bühnentanz (so steht es jedenfalls auf dem Pullover ihres Trainers) gerade an die Arbeit, und wir raten, was wohl ihre Aufgabenstellung gewesen sein mag. «Ich glaube, es war ‹Stellt das Ebola-Virus dar›», sage ich. «Ich glaube, es war ‹Macht euch irgendwie warm›», sagt A. 

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Diese Ballettschülerinnen der ZHdK schauen uns bewusst nicht an.
Diese Ballettschülerinnen der ZHdK schauen uns bewusst nicht an.Bild: KEYSTONE

Haben Künstler einen Körper?

Körperliche Betätigungen, denen man im Toni-Areal nachgehen kann:

  • Nahrung aufnehmen (ziemlich gut).
  • Nahrung wieder ausscheiden (auch ziemlich gut).
  • Atmen (Sauerstoff ist in handelsüblicher Qualität vorhanden, ausser dort, wo die Lüftungen noch nicht richtig funktionieren).
  • Flexible Arbeitsplätze nutzen.
  • Kinder haben im Sinne von: abgeben und betreuen lassen. Eventuell auch: Kinder machen...

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Warum liegt hier eigentlich Zement rum?

In der Mensa ist es wie im Inneren eines grossen Pfefferminzkonfekts.

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Bild: Kathrin Passig via Toniblog

Wenn man genauer hinsieht, handelt es sich nicht um Minzkonfekt und auch nicht um lauter kleine dreieckige Fliesen, sondern um etwas anderes:

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Bild: Kathrin Passig via Toniblog

Es sind Zementfliesen. Zementfliesen erfreuen sich seit ein paar Jahren wieder grosser Beliebtheit, so wie vorher schon mal im neunzehnten Jahrhundert. Warum sie trotz ihrer Schönheit zwischendrin hundert Jahre aus der Mode gekommen sind, weiss ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass sich Zementfliesen schneller abnutzen als Steinzeugfliesen und nicht säurefest sind. Also Vorsicht beim Hantieren mit dem Essig!

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Wie viele Räume hat das Toni-Areal?

hgkzintern: «Rund 800 Räume für die ZHdK.»

westnetz.ch: «Dummerweise haben in den 1279 Räumen einige Dinge nicht so funktioniert, wie sie hätten sollen.» 

20 Minuten: «Gleichzeitig schafft die Grosse Kaskade Orientierung im Gewirr der insgesamt 1400 Räume.» 

Zett-Hochschulmagazin der ZHdK: «Ausserdem ist im Toni-Areal praktisch keiner der 1500 Räume gleich wie der andere.» 

Tages-Anzeiger: «Aus den Industriehallen sind über 1500 Räume entstanden.»

Der Landbote: «Zudem können weitere der 1600 Räume genutzt werden, etwa für Ausstellungen.»

Hochparterre: «Von Januar bis April 2014 werden dann die 1972 Räume abgenommen.»

Limmattaler Zeitung: «Die rund 2000 Räume im Toni-Areal sind noch lange nicht bezugsbereit.»

Der Mann, der mit einem Plan umhergeht und die tatsächlichen Lüftungsrohre mit den im Plan vorgesehenen Lüftungsrohren vergleicht: «Und das mache ich fürs ganze Haus. Das Haus hat 2786 Räume, haben Sie das gewusst?»

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Wir werden die Blog-Leseproben von Kathrin Passig bis zum Ende ihrer Zürcher Zeit regelmässig aktualisieren.

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