Indiens Politiker hatten beteuert, Frauen besser schützen zu wollen. Nachdem vor einem Jahr eine Studentin von sechs Männern brutal vergewaltigt wurde und schliesslich an ihren Verletzungen starb, brach ein zorniger Massenprotest los. Politik und Polizei versprachen, das Land für Frauen sicherer zu machen.
In den vergangenen Tagen häufen sich jedoch wieder Berichte über Vergewaltigungen. Allein am Mittwoch wurden zwei neue Fälle bekannt. Eine 18-jährige Deutsche wurde offenbar in einem Zug in Südindien missbraucht. Eine 51-jährige Dänin gab an, im Zentrum Neu-Delhis in einem beliebten Backpacker-Viertel von sechs Männern vergewaltigt und ausgeraubt worden zu sein.
Wieder Neu-Delhi, wieder eine Tat mit mehreren Beteiligten. Nach dem Verbrechen an der Studentin Ende 2012, das weltweit Schlagzeilen machte, wurden Gesetze verschärft, Schnellgerichte eingesetzt, die Täter zum Tode verurteilt. Die Gewalt gegen Frauen ist seitdem Dauerthema in den Zeitungen, auf den Nachrichtensendern. Waren etwa alle Anstrengungen umsonst?
Dass das Thema öffentlich immer noch vehement diskutiert wird, ist an sich schon ein Fortschritt. Lange wurden die Taten verschwiegen, Frauen bekamen die Schuld zugeschrieben. Vergewaltigungen waren lange so alltäglich, dass sich kaum jemand daran zu stören schien.
Die Wahrnehmung also hat sich geändert. Nur gelingt es Indiens Regierung, den Behörden und der Polizei nicht, die Sicherheit der Frauen im Alltag zu verbessern. Das gilt nicht nur für Neu-Delhi, sondern auch für andere Grossstädte und ländliche Gegenden. Auch der politische Wille scheint zu erlahmen. Bei den Regionalwahlen in Delhi im Dezember spielte das Thema Sicherheit von Frauen kaum noch eine Rolle. Auch bei den bundesweiten Parlamentswahlen im Frühjahr dürfte es nicht bestimmend sein.
Verlässliche Statistiken fehlen, doch die Schlagzeilen reißen einfach nicht ab: Im Januar soll eine 33-jährige Polin von einem Taxifahrer, im Dezember eine 28-jährige Deutsche von einem Yogalehrer vergewaltigt worden sein. Sprachlos machen die immer wiederkehrenden Gruppenvergewaltigungen: Sechs Männer überfielen eine Schweizer Touristin. Drei Männer im Touristenort Manali im Juni 2013 eine Amerikanerin.
Das Problem betrifft nicht einmal in erster Linie Touristinnen. Für Indiens Frauen, von den selbstbewussten der Megacitys bis zu den Angehörigen der unteren Kasten, gehört die Gefahr des Belästigtwerdens seit langem zum Alltag. Auf engen Strassen werden sie bedrängt, in Verkehrsmitteln betatscht. Daran haben auch neue Notrufnummern, Frauentaxis, die weltweite Berichterstattung nicht sehr viel geändert.
Frauen in Neu-Delhi erkennen an, dass das Thema nicht länger totgeschwiegen wird. Das erzählen sie, wenn man mit ihnen spricht. Aber sie berichten auch, dass sie sich im Alltag immer noch nicht sicherer fühlen, und viele selbst der Polizei misstrauen.
Dieses Gefühl dürften Geschichten wie dieser aktuelle Fall aus der Region Kalkutta verstärken: In der Stadt Madhyamgram vergewaltigten mehrere Männer im Oktober eine 16-jährige Schülerin. Nachdem der Vater des Opfers Anzeige erstattet hatte, verging sich einen Tag später wieder eine Gruppe Männer an dem Mädchen.
Ihre Familie wurde mehrfach bedroht. Dann starb die junge Inderin in der Neujahrsnacht an Brandverletzungen. Über die genauen Umstände kursieren verschiedene Versionen. Unstrittig ist, dass die neuen Gesetze auch diese Frau nicht schützen konnten.
Wird eine Touristin vergewaltigt, gibt es immerhin schnell Festnahmen. Auch im Fall der mutmasslich vergewaltigten Dänin wurden bereits zwei Männer festgenommen. Trifft es eine Inderin in einem Slum oder auf dem Land, reagiert die Polizei oft noch mit derselben Gleichgültigkeit, als ob es die Debatte der vergangenen zwölf Monate nicht gegeben hätte.