Das Leben eines Nati-Fans anfangs der 1990er-Jahre ist hart. 1966 qualifizierte sich die Equipe letztmals für ein grosses Turnier und vor der WM-Qualifikation wird das Team in eine schwierige Gruppe mit Italien, Portugal und Schottland gelost. Roy Hodgson hat zwar im Sommer 1992 übernommen, aber nach dem zweiten Testspiel (0:2 gegen Bulgarien) würde wohl niemand auf eine WM-Teilnahme der Eidgenossen wetten.
Doch der Engländer formt eine schlagkräftige Truppe zusammen. In der WM-Quali wird zum Auftakt Estland 6:0 abgefertigt, dann folgt der 3:1-Erfolg gegen Schottland und im Auswärtsspiel in Cagliari führen die kleinen Schweizer bis zur 83. Minute sensationell 2:0, ehe Roberto Baggio und Stefano Eranio (91.) den Azzurri nach zwei Schnitzern der Schweizer die ganz grosse Blamage ersparen.
Trotz der späten Tore wissen die Schweizer jetzt: Da geht etwas! Es folgen ein 3:0-Sieg gegen Malta und im März 1993 ein glückliches 1:1 gegen Portugal. Davon möchten wir euch dieses schöne Bild von Ciriaco Sforza und Peixe nicht vorenthalten:
Im April übernimmt die Schweiz mit einem wenig berauschenden 2:0-Erfolg gegen Malta die Tabellenspitze mit 10 Punkten (für einen Sieg gibt es damals noch zwei Punkte). Jetzt, am 1. Mai 1993, geht es gegen Italien (8 Zähler) um einen grossen Schritt Richtung USA – oder bei einer Niederlage eher auf die gewohnte Schiene des knappen Scheiterns. Denn wenn die Schweiz verliert, müsste sie wohl zum Abschluss bei den starken Portugiesen wie auch in Schottland mindestens ein Remis holen sowie gegen Estland gewinnen, um weiter von der WM träumen zu können.
32'000 Zuschauer sorgen für ein ausverkauftes Wankdorf-Stadion in Bern. Eigentlich ist alles bereit. Aber die Bilanz gegen den südlichen Nachbarn stimmt wenig positiv. In 49 Partien siegte die Schweiz zuvor nur siebenmal, letztmals 1982 in einem Test in Rom mit 1:0. Der letzte Sieg in einem Ernstkampf geht aufs Jahr 1954 zurück. Und Italien will diese Serie gerne ausbauen.
Der Schweizer Goalie Marco Pascolo muss schon in den ersten Minuten dreimal eingreifen. Er klärt Mancinis Kopfball stark, rettet gegen Fusers Abschlussversuch und lenkt einen Freistoss von Roberto Baggio mirakulös um den Pfosten. Noch in der ersten Halbzeit hilft einmal Sforza aus und Pascolo wehrt mit dem Fuss Mancinis Schuss ab. Kurz: Die Schweiz schwimmt.
Trotzdem kann sie mit Hoffnung in die Pause gehen. Denn in der 44. Minute holt Dino Baggio im Mittelfeld Sforza von den Beinen und sieht vom spanischen Unparteiischen Antonio Martin Navarrette die Rote Karte. Goalie Gianluca Pagliuca wird nach dem Spiel reklamieren: «Der Schiedsrichter hat uns betrogen!»
Die zweite Halbzeit bringt dann gleich mal kurz Aufregung in Schweizer Wohnzimmer. Denn das nationale TV verpasst den Wiederanpfiff wegen der Werbung. Kommentator Matthias Hüppi tobt am nächsten Tag im «Sonntagsblick»: «Unglaublich, aber wahr, wir haben die ersten zwei Minuten verpasst!»
Immerhin wird das Publikum vor dem TV bald entschädigt: In der 55. Minute kann Italien nicht wie gewünscht klären, Alain Sutter bringt den Ball zurück in den Strafraum und Marc Hottiger vollendet stilvoll mit links zur umjubelten Führung.
Die Schweiz rettet den Mini-Vorsprung über die Zeit und übersteht zum ersten Mal in der Geschichte neun Partien ohne Niederlage (6 Siege, 3 Remis). Der erste grosse Sieg der Ära Hodgson lässt die WM-Qualifikation praktisch sicher erscheinen.
Der «SonntagsBlick» titelt am Tag danach: «1:0 – Amerika wir kommen!» und weiter: «Jungs, das war euer Meisterstück! Nach dem 1:0 gegen Italien kann den Schweizern auf dem Weg zur WM zu 99 Prozent nichts mehr passieren. Die Rechnung ist auch bei Niederlagen in Schottland und Portugal einfach: 12 + 2 (gegen Estland) = Amerika.»
Torschütze Hottiger – der wohl noch immer nicht weiss, warum er so weit vorne stand – erhält vom «Blick» folgende Bewertung: «Defensiv nicht immer sicher. Dafür mit viel Dampf nach vorne. Was für ein Supertor!» Er schreit nach dem Sieg «USA! USA! Mein schönster Tag!» Der Team-Senior Georges Bregy küsst den Rasen, die Freude auf der Ehrenrunde ist grenzenlos.
Während die Schweiz den Grundstein zur WM-Qualifikation legt, liegt Italien am Boden. In seinem 16. Spiel verliert Arrigo Sacchi erstmals eine Partie als «Mister» der Squadra Azzurra. Der «Sonntagsblick» spottet: «Im Kampf um die WM 1994 in den USA sitzt jetzt plötzlich das Geburtsland der Spaghetti mitten im Teig.»
Auch die italienischen Medien leiden. «Der regnerische 1. Mai, voll von schlechten Nachrichten aus aller Welt, hat den Italienern ein bitteres Fussballresultat beschert», jammert die «Gazzetta dello Sport». «Tuttosport» hat hingegen genau hingeschaut: «Der italienische Verbandspräsident hat das Stadion verärgert verlassen, hat es aber wohlweislich unterlassen, polemische Äusserungen von sich zu geben. Er sagte nur, dass die Italiener über das Mass bestraft worden seien.» Und der «Corriere della Sera» ärgert sich noch immer über die Rote Karte: «Der Generalsekretär der FIFA, Joseph Blatter, hat die Leistung von Schiedsrichter Navarrete positiv beurteilt. Der Generalsekretär der FIFA ist … Schweizer.»
Im Stadionbauch übrigens sind die Schweizer Fussballer nach dem Triumph freudentaumelnd. Stéphane Chapuisat und Marc Hottiger kommen dann auch noch auf die geniale Idee, den im Jubel verpassten Trikottausch nachzuholen und klopfen an die italienische Kabinentür. Ihr Anliegen wird mit einem «Raus hier!» kommentiert und Chappi meint danach verständnislos: «Die haben die Verlierer-Dress wohl schon wieder eingepackt …» Das «Verlierer-Dress» müssen die Italiener seither nie mehr einpacken, wenn es gegen die Schweiz geht. Seit dem Coup von Bern hat die Schweiz in acht Partien gegen den vierfachen Weltmeister je viermal verloren und Remis gespielt.
In der Qualifikation für die WM 1994 holt die Schweiz in der Folge ein 1:1 in Schottland, vergibt den ersten Matchball in Portugal mit dem 0:1 zwar, sichert sich aber die WM-Fahrkarte im letzten Spiel gegen Estland mit einem souveränen 4:0 im Zürcher Hardturm-Stadion.
Marc Hottiger steht in den USA in allen vier WM-Partien über 90 Minuten im Einsatz. 1996 endet seine Nati-Karriere, 2002 beendet der Aussenverteidiger die Laufbahn in Sion. Seit 2009 ist er Technischer Direktor des Team Waadt.