Nationalrat debattiert leidenschaftlich über Grundsatzfragen

Nationalrat debattiert leidenschaftlich über Grundsatzfragen

06.06.2018, 12:28

Der Nationalrat hat am Mittwoch die Debatte zur Selbstbestimmungsinitiative der SVP fortgesetzt. Erneut ging es um grosse Themen - um Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit und die Frage, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen. Auch Showeinlagen fehlten nicht.

Entscheiden wird der Rat erst kommenden Montag nach einer Open-end-Sitzung. Insgesamt 83 Ratsmitglieder wollen sich äussern. Bisher kam etwa die Hälfte zu Wort. Die SVP-Vertreter stellten erneut viele Fragen, allerdings nicht mehr den Votanten aus den eigenen Reihen.

Sie zeigten sich dafür kreativ. Thomas Aeschi (SVP/ZG) hantierte mit einer Marionette, um zu verdeutlichen, dass «fremde Richter» über die Schweiz bestimmten. Andreas Glarner (SVP/AG) klebte sich mit EU-blauem Pflaster den Mund zu, weil das Volk aus seiner Sicht mundtot gemacht wird.

Vorrang für Landesrecht

Den Initianten geht es um Volksentscheide: Diese sollen umgesetzt werden, auch wenn eine Initiative gegen internationales Recht verstösst. Mit der Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» will die SVP festlegen, dass die Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht Vorrang hat - unter dem Vorbehalt weniger zwingender Bestimmungen. Völkerrechtliche Verträge, die der Verfassung widersprechen, müsste die Schweiz neu verhandeln und nötigenfalls kündigen.

Die SVP-Vertreter argumentierten, der Vorrang habe bis 2012 faktisch gegolten. Seither habe das Bundesgericht in mehreren Fällen die Schubert-Praxis nicht angewendet. Diese besagt, dass Völkerrecht grundsätzlich dem Landesrecht vorgeht - ausser das Parlament erlässt bewusst ein völkerrechtswidriges Gesetz. Als Gegenausnahme hat das Bundesgericht festgehalten, dass internationale Menschenrechtsgarantien dem Landesrecht stets vorgehen.

Von Staatsstreich bis Giftgas

Aeschi bezeichnete die Praxisänderung als Skandal. Das Volk und alle, die an die Demokratie glaubten, müssten aufschreien, denn es sei ein «Staatsstreich» in Gange. «Sie wollen dem Volk Scheinselbstbestimmung vorgaukeln.» Erich Hess (SVP/BE) befand, die Initiative sei die letzte Chance, die direkte Demokratie zu retten.

Roger Köppel (SVP/ZH) sprach von einer «kalten Entmachtung des Volkes» und einem «Staatsputsch». «Die politische Elite im Vollrausch der Macht ist wild entschlossen, die Volkssouveränität an sich zu reissen», sagte er. Claudio Zanetti (SVP/ZH) warnte, beim Völkerrecht könne der Wind drehen, was - wie bei einem Giftgaseinsatz - zu verheerenden Folgen führe.

Drohende «Volksdiktatur»

Die Rednerinnen und Redner aller anderen Fraktionen sprachen sich entschieden gegen die Initiative aus. Diese fordere, dass die Mehrheit ohne Schranken über die Minderheiten herrschen könne, sagte Martina Munz (SP/SH). Diese Forderung nach einer «Volksdiktatur» sei brandgefährlich.

Cédric Wermuth (SP/AG) stellte fest, 200 Jahre Demokratie in Europa hätten gezeigt, dass Demokratie mehr sei als die Willkürherrschaft der Mehrheit. Die Grundrechte des Einzelnen seien gleichwertig. Das Recht des Einzelnen dürfe nie hinter jenes der Mehrheit gestellt werden. Wer das nicht verstanden habe, habe die Demokratie nicht verstanden.

«Die SVP gegen das Volk»

Wermuth erinnerte an Maximilien de Robespierre, der die Grundrechte ausser Kraft gesetzt habe. Das sei der Geist, den die Initiative atme. Die Initianten sähen Demokratie und Freiheit von aussen bedroht. Faktisch seien aber sie die Bedrohung - die grösste seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wäre dies eine Fussballpartie, wäre es die Partie «die SVP gegen das Volk».

Viele Rednerinnen und Redner wiesen darauf hin, dass eine Annahme der Initiative eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Folge hätte. Es handle sich dabei um eine Grundversicherung der Bürgerinnen und Bürger, sagte Stefan Müller-Altermatt (CVP/SO). «Niemals möchte ich darauf verzichten.» Wer eine starke Demokratie wolle, wolle auch einen starken Rechtsstaat. Die Initianten seien die «Demokratieabschaffer».

Völkerrecht kein Supermarkt

Einige Gegner räumten ein, dass auch ihnen manche Entscheide des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht gefielen. Das gehöre aber dazu. Internationales Recht sei kein Supermarkt, aus dem man sich nach Belieben bedienen könne, sagte Claude Béglé (CVP/VD). Hans-Peter Portmann stellte fest, die Würde eines jeden einzelnen Menschen sei nicht verhandelbar. «Seid wachsam und opfert nicht die Werte unserer Schweiz auf dem Altar des Populismus.»

Viele wiesen auch darauf hin, dass sich die Schweiz mit einem Ja zur Initiative zum Vertragsbruch ermächtigen würde. Hätte das nationale Recht eine absolute Vorrangstellung, wäre die Schweiz kein glaubwürdiger Partner mehr. «Nur wer die Schweiz isolieren will, stimmt dieser Initiative zu», sagte Bernhard Guhl (BDP/AG).

Jürg Grossen (GLP/BE) bezeichnete das Volksbegehren als «Rechtsunsicherheitsinitiative». Ein Ja wäre ein fatales Signal und der Schweiz unwürdig. Auch Christa Markwalder (FDP/BE) warnte vor einem Reputationsschaden.

Noch nicht geäussert hat sich Justizministerin Simonetta Sommaruga. Sie wird am Montag Stellung nehmen. (sda)

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