In den Hauptstädten Europas laufen die Drähte heiss. An Medienkonferenzen und in Stellungnahmen reagieren Staatschefs und Aussenminister auf den Brexit-Entscheid der Briten. In Berlin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für Montag zu einem Vierergipfel eingeladen.
Zusammen mit Frankreichs Präsident François Hollande, Italiens Regierungschef Matteo Renzi sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk will sie über die Folgen des britischen Brexit-Referendums beraten. Merkel sagte am Freitag: «Die Europäische Union ist stark genug, um die richtigen Antworten auf den heutigen Tag zu geben.»
Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen schon am kommenden Dienstag und Mittwoch zu ihrem regulären Juni-Gipfel zusammen, der nun vollständig vom Brexit dominiert sein dürfte.
So schnell wie möglich
Die Europäische Union will den Brexit so schnell wie möglich anpacken. Cameron hingegen hatte bei der Bekanntgabe seines Rücktritts bis Oktober gesagt, dass sein Nachfolger den Austritt offiziell in Brüssel deponieren und anschiessend die Verhandlungen mit der EU führen sollte. Dem erteilte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine klare Absage.
Die EU erwarte von der britischen Regierung, «so früh wie möglich» den Austrittsprozess nach Artikel 50 des Lissabonner Vertrages einzuleiten, sagte Juncker vor den Medien in Brüssel. «Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern», sagte er im Namen der EU-Spitze.
Zuvor hatte er sich mit EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und dem niederländischen Premierminister Mark Rutte getroffen, dessen Land derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Der EU-Kommissionspräsident sagte, er sei persönlich zwar sehr traurig, er werde den freien und demokratischen Entscheid der Briten jedoch akzeptieren. Juncker erntete zum Schluss der Medienkonferenz noch Applaus, als er die Frage einer Journalistin, ob der Brexit nun den Beginn vom Ende der EU darstellt, nur mit «Nein» beantwortete und den Raum verliess.
Zeit, um über die Zukunft nachzudenken
Klar ist, dass die EU sich wandeln muss. Die Reaktionen aus den EU-Mitgliedsstaaten sprechen eine deutliche Sprache. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den Austritt Grossbritanniens aus der EU als historischen Moment dargestellt, der «ernste politische Konsequenzen» mit sich bringen werde.
Aber man habe sich auf dieses Szenario vorbereitet. Es herrsche Einigkeit unter den Mitgliedsstaaten, dass diese Länder weiterhin zusammenhalten werden. Nun sei aber die Zeit gekommen, um grundsätzlich über die Zukunft der EU nachzudenken.
Dafür fordert der belgische Regierungschef Charles Michel im kommenden Monat einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs. Das Abstimmungsergebnis sei eine «Ohrfeige für das Projekt Europa», sagte Michel in Brüssel. «Ich fordere ein Konklave, um unser Engagement im Juli zu bekräftigen. Wir müssen unsere Prioritäten definieren und eine neue Zukunft für Europa darlegen.»
Warnung, aber nicht Ende der Welt
Polen sieht im Ausgang des britischen Brexit-Referendums ein Warnsignal an die gesamte EU. Statt das Votum der Briten zu kritisieren, sollte die Volksabstimmung zum Handeln mobilisieren, hiess es in einer Stellungnahme des Warschauer Aussenministeriums.
Der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka bedauerte das Nein der Briten zur EU. «Trotz der Gefühle der Enttäuschung vieler von uns über das Referendumsergebnis muss man sehen, dass es nicht das Ende der Welt bedeutet und schon gar nicht das Ende der Europäischen Union.» Auch er forderte Veränderungen bei der EU.
Furcht vor Dominoeffekt
Gleicher Meinung ist Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz: Er sieht nach dem Brexit grossen Veränderungsbedarf bei der EU. Wenn eines der grössten EU-Mitgliedsländer aus der EU austrete, könne «kein Stein auf dem anderen bleiben», sagte Kurz im Ö1-Morgenjournal des ORF.
Es sei nötig, dass sich die EU schnell neu aufstelle, wenn sich ein solches Referendum nicht in einem anderen EU-Land wiederholen solle. Tempo und Ausmass dieser Veränderung müssten «enorm» sein. Die EU muss laut Kurz zentrale Probleme wie etwa das Thema Migration lösen. «Ein Dominoeffekt auf andere Länder ist nicht auszuschliessen.»
Marine Le Pen, Chefin des französischen rechtsextremen Front National, verlangte bereits weitere Abstimmungen in den EU-Mitgliedsstaaten. «Wir brauchen jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU», sagte sie.
Der Chef der rechtspopulistischen niederländischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, hatte nach dem Ja zum Brexit getwittert, dass «die Niederlande die Nächsten sein werden». Seine Partei fordere «ein Referendum über den Nexit.»
Nicht zuletzt als Reaktion darauf suchte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte nach beruhigenden Worten: Die europäische Zusammenarbeit sorge für Arbeitsplätze und «kollektive Sicherheit in einer instabilen Welt», sagte der rechtsliberale Premier.
Von einem Dominoeffekt geht EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht aus. «Die Kettenreaktion wird es nicht geben», sagte er im «Morgenmagazin» des ZDF. Zur Begründung verwies er unter anderem auf die negativen Reaktionen von Wirtschaft und Börse auf den Entscheid der Briten. (sda)