Liebe Bettina
Manchmal – es kommt nicht allzu oft vor – habe ich das Bedürfnis, eine Kolumne zu schreiben, ganz ohne Frage. Weil mir etwas auf dem Herzen brennt oder ich eine Meinung loswerden möchte. Die letzten Tage ging es mir so. Ich hätte gerne etwas zur KESB geschrieben. Aber ich habe keine Plattform dazu, respektive will ich mir gar keine neue erschliessen, habe ich doch schon genug damit zu tun, die bereits vorhandenen zu bespielen.
Darum habe ich mich über Ihre Frage von heute Morgen so sehr gefreut. Sie kam wie bestellt und ich bin dankbar dafür, dass ich mich nun doch noch zu diesem Thema äussern kann. Und das will ich nun auch tun:
Ich möchte Ihnen danken, liebe Bettina. Ihnen und allen anderen Mitarbeitern der KESB, die diesen furchtbar anspruchsvollen Beruf ausüben, Tag für Tag. Denn wenn ich auch der Berichterstattung folge und immer mal wieder etwas über Ihr Aufgabengebiet lese, so kann ich doch nur erahnen, was es bedeuten muss, solche Entscheidungen zu treffen. Es gibt ein paar wenige Jobs auf dieser Welt, bei denen man es eigentlich nur falsch machen kann. Weil man, wann immer man es richtig macht, nichts darüber erfährt. Sie können nie wissen, ob die Fremdplatzierung eines Kindes die richtige Lösung war. Wenn aber ein Drama passiert, dann wird offensichtlich, dass man es hätte anders machen sollen. Eine undankbarere Aufgabe gibt es vermutlich nicht.
Sie und Ihre Kollegen werden an den Fällen gemessen, in denen etwas schief läuft. Über all die Arbeit, die einem Kind oder der ganzen Familie zugute kommt, wird dagegen nie gesprochen. Ich stelle mir das wahnsinnig frustrierend vor. Und trotzdem ist es so wichtig, dass sich Menschen wie Sie für diese Aufgaben entscheiden.
Viele Leute haben keine Vorstellung davon, was in gewissen Familien vor sich geht. Sie leben in ihrem Elfenbeinturm auf der rosa Wolke und schon nur der Gedanke, dass man ein Kind lieber in die Obhut eines Heims oder einer Pflegefamilie gibt, weil es dort bessere Chancen hat, gesund gross zu werden, sprengt das Denken. Wenn man dann aus dieser Position der heilen Welt heraus darüber liest, dass das KESB ein Kind aus einer Familie nimmt, dann kann man es nur böse finden. Das wiederum ist nicht böse gemeint. Es ist einfach nur ein Zeichen für die eigene Unfähigkeit, sich in solche Familiensituationen hineinzudenken. Ein Unvermögen, nicht mehr, nicht weniger. Sich vorzustellen, dass ein Kind von den eigenen Eltern misshandelt wird oder im elterlichen Haushalt verwahrlost, passt nicht in unser Denkschema. Was nicht sein darf, ist nicht.
Da fällt es einem einfacher sich vorzustellen, dass die Fremdplatzierung aufgrund uneiniger Erziehungsmaßnahmen stattgefunden hat. "Aha, die Mutter kommt aus einem anderen Kulturkreis und erzieht die Kinder nicht nach gängigem Schweizer Schema." Es kann eine Verharmlosung geschehen, die den Schutz der eigenen Psyche bewirken soll. Man will sich noch nicht einmal vorstellen, was der wirkliche Grund dahinter ist. Es fehlen einem die Bilder und man will sie auch gar nicht finden. Das ist für die Wahrnehmung Ihrer Arbeit eine denkbar schlechte Ausgangslage, aber sie ist dennoch zutiefst menschlich.
Letzte Woche war ich zu Besuch im Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Als ich, gequetscht zwischen Hunderte anderer Besucher, durch die enge Wohnung geführt wurde, hörte ich Dinge wie: "Sie hatten wenigstens einen warmen Platz hier und wurden versorgt". Dass sie schlussendlich, bis auf den Vater alle gestorben sind, wurde geflissentlich ausgeblendet. Als Natascha Kampusch nach vielen Jahren Gefangenschaft freikam, las und hörte ich des Öfteren, dass sie ja eigentlich recht gut versorgt war, da unten im Keller. Sie hatte Essen und Fernsehn. Was es bedeuten muss, als kleines Kind in der totalen Einsamkeit und ohne Licht in einem Keller aufzuwachsen, will man sich einfach nicht vorstellen. Man will diesen Gefühlen keinen Platz einräumen, zu schrecklich und unfassbar sind sie. Das sind jetzt natürlich zwei sehr extreme Beispiele, aber sie veranschaulichen den Umgang mit solchen Informationen sehr gut. Der Mensch will sich am Guten festhalten, weil er Angst hat, das andere nicht zu verkraften. Das bewirkt die bereits erwähnte Verharmlosung, welche jeden Job in diesem Bereich einfach nur schwierig macht.
Sie verschliessen Ihre Augen nicht. Sie sehen hin, wo andere nicht hinsehen wollen. Und Sie übernehmen Verantwortung und treffen Entscheidungen, die in den meisten Fällen auf wenig Verständnis stossen. Dafür braucht man ein verdammt dickes Fell. Wenn man dann noch von aussen angeschossen und angefeindet wird, dann macht es das Ganze nicht einfacher.
Ich sehe Ihre Leistung, liebe Bettina. Ich sehe Ihr Bemühen und ich fühle Ihre Verzweiflung und ich kann Ihnen sehr gut nachempfinden, wenn Sie den Bettel immer wieder mal hinwerfen möchten. Ich kann Ihnen leider kein Rezept in die Hand drücken, wie Sie damit leichter umgehen können. Natürlich könnte ich Ihnen etwas über die Stärkung innerer Ressourcen schreiben. Dass es wichtig ist, dass Sie sich Gutes tun. Über die Vorteile einer regelmässigen Supervision. Aber im Unterschied zu ganz vielen Menschen können Sie am Abend nicht einfach zum Telefon greifen und mit der besten Freundin über das Erlebte reden.
Was mir bleibt, ist Ihnen von Herzen zu danken. Ihnen und all Ihren Arbeitskollegen, die ihren Job in diesen widrigen Zeiten nach bestem Wissen und Gewissen ausführen. Welche die Menschen hinter den Akten sehen und nach Lösungen suchen, welche stimmig sind. Sie machen eine unbeschreiblich wichtige Arbeit. Und erhalten dafür kaum Anerkennung oder Wertschätzung. Von mir sollen Sie diese heute bekommen.
Meinen aufrichtigen Dank dafür. Hoffentlich können Sie mir nachsehen, dass ich keinen guten Rat für Sie auf Lager habe. Sie haben sich für einen Beruf entschieden, für den man nie einen Dank erhält und der trotzdem so unendlich wichtig ist. Bitte behalten Sie dieses Wissen immer im Herzen.
Ihre Kafi.