Das Mass aller Dinge ist der Medaillenspiegel. Die Gralshüter des olympischen Sportes verurteilen zwar diese Statistik als patriotisches und chauvinistisches Teufelszeug. Doch nichts interessiert die Menschen in aller Welt so sehr wie diese inoffizielle Weltrangliste des Wintersportes.
Der Medaillenspiegel hilft uns auch bei der Einordnung der Spiele. Die Emotionen des Augenblickes verführen ja gerade im Sport zu optimistischen Einschätzungen, die vor der Geschichte nicht standhalten.
Die Bilanz von Sotschi 2014: Sechsmal Gold, dreimal Silber, dreimal Bronze. So viel Gold hatten wir zwar auch in Vancouver. Aber nicht so viel Silber dazu. Deshalb sind Sotschi 2014 medaillenstatistisch die erfolgreichsten Spiele aller Zeiten.
Die Statistik sagt aber nicht immer alles. Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen. 1972 brachte uns bereits viermal Gold auf Platz drei im Medaillenspiegel. Auch 1988 kamen wir mit fünfmal Gold auf den dritten Rang. Hier nun stehen wir mit sechsmal Gold «nur» auf Position 7.
Die «goldenen Tage von Sapporo» sind die gefühlt besten Spiele aller Zeiten. Nur acht Jahre nach den «Nullspielen» von Innsbruck 1964 ohne eine einzige Medaille waren wir wieder eine Sport-Weltmacht. Die olympischen Emotionen von 1972 werden wir in unseren Stuben nie mehr haben.
Sotschi 2014 wird also nicht so als «Big Bang» unserer Sportgeschichte wahrgenommen wie Sapporo 1972. Auf den ersten Blick und emotional scheinen die Spiele von 2014 gute, solide aber keine aussergewöhnlichen Spiele zu sein.
Denn diese Spiele sind nicht nur durch goldene Momente geprägt worden, sondern auch durch Enttäuschungen und Dramen: Simon Ammann, der Adler des olympischen Luftraumes, hüpfte nur noch wie ein Spatz. Die «Justin Biebers» des Wintersportes (die Stars der Ski-Freistil-Disziplinen) blieben ohne Medaille. Das Männer-Hockeyteam, immerhin WM-Finalist, verabschiedete sich im Achtelfinale. Der Snowboard-Titan Philipp Schoch trat besiegt und verwundet von der olympischen Bühne ab.
Dass Dario Cologna am letzten Tag seine Medaillenchance durch einen Skibruch verlor, ist so bezeichnend für unsere olympischen Heldinnen und Helden wie die goldenen Triumphe von Iouri Podladtchikov, Dario Cologna, Sandro Viletta, Dominique Gisin und Patrizia Kummer oder das Bronze-Märchen der Eishockey-Frauen. Sotschi 2014 bescherte dem Schweizer Sport eine ganz besondere Mischung aus Triumph und Tränen.
Aber Sotschi 2014 war auf den zweiten Blick viel mehr als gewöhnlich oder gut oder dramatisch. Sotschi 2014 hat uns tatsächlich die bisher erfolgreichsten Winterspiele beschert. Neben den Medaillen haben wir auch 25 Diplome für die Ränge 4 bis 8 geholt. Mehr als doppelt so viele wie 2010 in Vancouver.
Die «Schweizer Sport AG», dieses weltweit einmalige Modell, das stärker durch private Initiative als auf staatlicher Förderung und Verbands-Sozialismus geprägt wird, hat nämlich eine Belastungsprobe bestanden: Selbst dann, wenn nicht alle die Erwartungen erfüllen, bleiben wir eine grosse Wintersportnation. Das Versagen einzelner Medaillenkandidatinnen oder -kandidaten kann nicht eine ganze olympische Expedition gefährden.
Das zeigt eindrücklich, wie vielfältig, breit gefächert und stark unsere Sportkultur mit 20 000 Vereinen und 1,6 Millionen aktiven Sportlerinnen und Sportlern geworden ist. Wir spielen auf fast allen Tastaturen des globalen Wintersportpianos. Wir haben den asketischen nordischen Riesen Dario Cologna und den Halfpipe Rockstar Iouri Podladtchikov.
Wir haben eine eizigartige Sportkultur, zu der wir Sorgen tragen sollten. Die mit zusätzlichen Investitionen in Infrastrukturen, in die Ausbildung der Jugendtrainer und in Verbesserungen des Umfeldes rund um die Athletinnen und Athleten gehegt und gepflegt werden muss.
Wir sind im kapitalisierten, globalisierten Weltsport des 21. Jahrhunderts genau so erfolgreich wie einst in den beschaulichen Winterspielen der Amateure von 1928 oder 1948. Wir haben unsere Position auch nach der Ausweitung des olympischen Programmes halten können. Der Schweizer Sport ist also dazu in der Lage, sich den internationalen Entwicklungen anzupassen. Die Schweizer als die Gallier des Weltsportes, die sich im sportlichen «Imperium Romanum» keck behaupten.