Die Portugiesen feiern Siegtorschütze Éder, Frankreichs Antoine Griezmann ist fassungslos. Bild: SRDJAN SUKI/EPA/KEYSTONE
Spielerisch vermochte die Fussball-EM 2016 in Frankreich keine Glanzlichter zu setzen. Aus historischer Perspektive aber war sie ein in mehrfacher Hinsicht aussergewöhnliches Turnier.
Die Fussball-Europameisterschaft ist im Laufe ihrer 56-jährigen Geschichte immer weiter aufgeblasen worden. Anfangs bestand die Endrunde nur aus den Halbfinals, einem Spiel um Platz 3 und dem Final. 1980 wurde sie auf acht und 1996 auf 16 Mannschaften erweitert. Dem Niveau hat dies kaum geschadet, in der Regel bot sie attraktiven Fussball.
Die erneute Aufstockung auf nunmehr 24 Teilnehmer hingegen hat dem Turnier nicht gut getan. Nicht nur dauert es nun gleich lang wie eine Weltmeisterschaft, was definitiv zu viel ist. Spielerisch war die Euro 2016 in Frankreich ein Rückschritt, da haben die vielen Kritiker des neuen Modus absolut recht. Die Exploits der sympathischen Aussenseiter Island und Wales ändern daran nichts.
Trotzdem gibt es Gründe, warum man sich an diese Europameisterschaft erinnern wird. Sie hat aus historischer Perspektive einige bemerkenswerte Resultate hervorgebracht:
Die griechischen Spieler nach dem sensationellen Titelgewinn 2004 auf der Ehrenrunde. Bild: Dusan Vranic/AP/KEYSTONE
Eine Fussball-WM mag noch so überraschend verlaufen, am Ende gewinnt ein Grosser des Weltfussballs. EM-Turniere hingegen endeten mehrfach mit einem unerwarteten Sieger. 1976 verlor Deutschland als amtierender Weltmeister den Final gegen die Tschechoslowakei. 1992 kam es zu einer Reprise, die Deutschen unterlagen den «Ferienkickern» aus Dänemark. 2004 biss sich Portugal an der griechischen Mauer die Zähne aus. Weitere zwölf Jahre später wurden die Portugiesen nicht als Titelkandidat gehandelt, doch nun gelang ihnen der grosse Coup.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ausgerechnet in einem Jahr, in dem kaum jemand sie auf der Rechnung hatte, gewannen die Portugiesen endlich ihren ersten bedeutenden Titel. Immer wieder waren sie nahe dran. Seit 1966 erreichten sie siebenmal den Halbfinal eines grossen Turniers (zweimal an einer WM, fünfmal an einer EM). 2004 und 2016 schafften sie es ins EM-Endspiel. Die Lusitaner waren reif für den Titel.
An der WM 1966 scheiterte Portugal mit Superstar Eusebio im Halbfinal am nachmaligen Weltmeister England.
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Sie schafften es mit einer Mannschaft, in der es neben Cristiano Ronaldo kaum Stars gibt, die aber von Trainer Fernando Santos in der K.o.-Runde perfekt auf die jeweiligen Gegner eingestellt wurde. Das erinnert an den Erfolg von Griechenland unter Otto «Rehakles» Rehhagel. Auch Dänemark war 1992 mit einer Truppe Europameister geworden, die weit weniger Glamour besass als jene aus den 80er Jahren, die als «Danish Dynamite» begeisterte, aber titellos blieb.
Man mag von Cristiano Ronalds Allüren halten, was man will. Er gehört definitiv zu den besten Spielern der Geschichte. Und mit dem Europameistertitel darf er sich nun auch unter die Grossen seines Sports einreihen. Denn man kann als Fussballer auf Klubebene noch so viele Erfolge feiern, in den Olymp erhoben wird man erst, wenn man mit dem Nationalteam triumphiert. Deshalb wird man sich an Pelé, Maradona und Beckenbauer noch in ferner Zukunft erinnern.
Diego Maradona und Pelé wurden dank ihren Weltmeistertiteln unsterblich.
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Der kürzlich verstorbene Johan Cruyff hingegen steht trotz seiner Klasse nicht auf der selben Stufe. Gleiches gilt für Alfredo Di Stéfano. Fussballkenner halten den Alleskönner aus Argentinien für den besten Spieler der Geschichte, doch heutige Fans kennen kaum noch seinen Namen. Sein Landsmann Lionel Messi wird dieses Schicksal kaum erleiden. Nach dem Triumph von Erzrivale Ronaldo jedoch wird ihn das wiederholte Versagen mit Argentinien noch mehr schmerzen.
Seltsame Duplizität der Geschichte: In der Nacht vor dem WM-Final 1998 gegen Frankreich erlitt Brasiliens Topstürmer Ronaldo einen rätselhaften Anfall, dessen Ursache bis heute unklar ist. Er lief im Stade de France dennoch auf, war aber nur ein Schatten seiner selbst und konnte die klare 0:3-Niederlage gegen den Gastgeber nicht verhindern.
Brasiliens Ronaldo erlitt vor dem WM-Final 1998 einen rätselhaften Anfall.
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18 Jahre später entwickelte sich an gleicher Stätte erneut ein Drama um einen Spieler namens Ronaldo. Portugals Captain Cristiano Ronaldo wurde nach nur acht Minuten vom Franzosen Dimitri Payet rüde gefoult und am Knie verletzt. Verzweifelt versuchte er weiterzuspielen, doch nach 25 Minuten musste er mit der Bahre vom Platz getragen werden. Dieses Mal jedoch gab es ein Happyend: Portugal gewann auch ohne seinen Megastar.
Der Modus sorgte dafür, dass sich sämtlich teilnehmenden Welt- und Europameister in der K.o-Phase in der gleichen Tableauhälfte befanden. Dabei kam es zu Duellen, bei denen vermeintliche Gewissheiten umgestossen wurden. Und damit ist nicht unbedingt das Scheitern der Engländer gegen Island gemeint.
In einem irren Penaltyschiessen verloren die Italiener erstmals ein wichtiges Spiel gegen Deutschland.
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Im Viertelfinal konnte sich Deutschland erstmals an einem grossen Turnier in einem «Alles oder nichts»-Spiel gegen «Angstgegner» Italien durchsetzen. Es folgte die Niederlage im Halbfinal gegen Frankreich, das sein Deutschland-Trauma überwand. Portugal wiederum revanchierte sich im Final für die beiden schmerzhaften Niederlagen gegen Frankreich im EM-Halbfinal 2000 und im WM-Halbfinal 2006.
Zinedine Zidane führte Frankreich 1998 zum Weltmeistertitel gegen Brasilien.
Bild: AP NY
An der allerersten Fussball-EM 1960 verloren die Franzosen im Halbfinal in Paris gegen Jugoslawien. Seither aber war ihre Heimbilanz makellos. Europameister 1984, Weltmeister 1998, beide Male vor eigenem Publikum. Nun ist auch diese Serie auf dramatische Weise gerissen. Ein schwacher Trost bleibt der Equipe Tricolore: Mit diesen Spielern kann sie noch einiges erreichen.
Es war keine
Europameisterschaft der grossen Spiele, aber eine der grossen Dramen.
Und deshalb doch ein tolles Turnier. Ach ja, eine Serie hat übrigens
gehalten: Die Schweizer Nati verreist spätestens nach dem
Achtelfinal in die Ferien. Die Schuld daran kann sie nur bei sich
selber suchen.