Herr Krieg, die israelische Armee plant eine Bodenoffensive in der Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens. Sie will so die letzten Bataillone der islamistischen Hamas zerschlagen. Wie realistisch ist es, dass Israel diese Offensive durchzieht?
Andreas Krieg: Sicher viel realistischer als noch vor ein paar Wochen.
Weshalb?
Israel nutzt diese Offensive nicht nur für die eigenen Ziele, sondern auch als Druckmittel gegenüber den USA, um von den Amerikanern Zugeständnisse zu erhalten. Inwiefern die Offensive letztendlich so durchgeführt wird wie die Angriffe auf Gaza-Stadt oder Chan Junis, lässt sich jetzt nicht beurteilen. Die Evakuierungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung waren damals sicher nicht ideal, aber definitiv einfacher als jetzt.
Was war anders?
Bei der Operation ganz am Anfang des Krieges in Gaza-Stadt war der Südteil des Gaza-Streifens noch bewohnbar. Es gab funktionierende Infrastruktur und es war zumindest theoretisch möglich, grosse Teile der Bevölkerung zu evakuieren. Letztendlich hat das dennoch nicht optimal funktioniert, wie die Opferzahlen zeigten.
Und wie sieht es nun in Rafah aus?
Das Problem ist, dass die Evakuierungspläne mit jeder Offensive Israels schwieriger wurden. Insgesamt sind 70 Prozent des Gaza-Streifens komplett zerstört. Dort können die Menschen nicht mehr leben. Rafah im Süden ist aktuell der einzige Ort, der noch teilweise bewohnbar ist. Wird Israel jetzt auch noch Rafah bombardieren, müssen die Menschen in Bereiche des Gaza-Streifens flüchten, die bereits komplett zerstört sind.
Es gibt ja auch noch einen Sicherheitskorridor, den die Israelis gebaut haben.
Ja. Dieser Korridor liegt zwischen dem Norden und dem Süden des Gaza-Streifens. Dort befinden sich Militärbasen, Gräben und Mauern, daher ist es fast unmöglich, vom Süden, wo sich die Menschen im Moment mehrheitlich aufhalten, in den Norden zu flüchten. Diese Ausgangslage wird dazu führen, dass die Menschen, die aktuell in Rafah sind, nach Chan Junis flüchten müssen. Chan Junis hat jedoch enorme Zerstörung erfahren, ist eigentlich unbewohnbar. Aber es gibt noch weitere Probleme.
Die wären?
In Chan Junis liegen in den Trümmern Sprengsätze und Bomben, die nicht explodiert sind. Weil die israelische Armee teilweise altes Material verwendet, sogenannte «dumb bombs» («dumme Bomben»), die nicht GPS-gesteuert sind, ist dieses Gebiet für Zivilisten enorm gefährlich. Das macht es umso schwieriger, die Zivilbevölkerung mit Wasser, Essen, Hilfsgütern und Elektrizität zu versorgen. In der Stadt Rafah hat vieles besser funktioniert. Auch wegen der Nähe zu Ägypten.
Was sagt das über die Evakuierungspolitik Israels aus?
Dass sie zu wenig durchdacht ist. Israel hat Sicherheitszonen errichtet, die dann doch keine waren und trotzdem bombardiert worden sind. Man hat Fluchtkorridore als sicher bezeichnet und dort dennoch Menschen erschossen. Ich habe lange in Israel gelebt, kenne die israelischen Streitkräfte sehr gut. Ich muss wirklich sagen, dass Israel der humanitären Komponente der Kriegsführung bislang zu wenig Beachtung schenkte. Wird nun Rafah evakuiert, wird es auch da wieder zu hohen Opferzahlen kommen. Viele Menschen können Rafah auch nicht verlassen, sie werden dann ins Visier der Luftwaffe und der Artillerie geraten.
Was sagt die internationale Gemeinschaft zu den Plänen Israels?
Aus Europa und den USA gibt es grossen Druck. Es herrscht die Meinung vor, dass die Offensive in Rafah, so wie sie jetzt geplant ist, nicht durchgeführt werden kann. Aus moralischen Gründen und vor allem aus Sicht des humanitären Völkerrechts ist sie nicht durchführbar, ohne Kriegsverbrechen zu begehen. Das Verhältnis zwischen den zivilen Opfern und dem militärischen Vorteil, den Israel erlangen würde, ist nicht gegeben.
Rafah liegt an der Grenze zu Ägypten. Auch die Ägypter sind über die Pläne Israels nicht erfreut.
Ja, denn die grosse Angst der Ägypter ist, dass Hunderttausende von Palästinensern versuchen, über den Zaun zu ihnen zu gelangen. Vor allem, wenn Israel seine Bombenangriffe auf Rafah in der Form durchführt, wie wir das in den letzten Monaten in anderen Städten im Gaza-Streifen gesehen haben.
Lässt sich eine Terrororganisation wie die Hamas überhaupt komplett zerschlagen? Das ist ja das erklärte Ziel Israels.
Die Hamas hält sich in einer Parallelwelt auf. In einem Schlachtfeld, das mit dem, was wir an der Oberfläche sehen, sehr wenig zu tun hat. Wie extrem weitläufig das Tunnelsystem der Hamas ist, hat selbst israelische Offizielle verwundert, mit denen ich gesprochen habe. Die Hamas hat sich in den vergangenen Jahren wortwörtlich eingegraben und unterhalb des Gaza-Streifens eine riesige Infrastruktur aufgebaut.
Mit welchen Folgen?
Die nach wie vor weitgehend intakten Tunnelsysteme erlauben es der Hamas, unter der Frontlinie hindurch zu operieren. Hamas-Terroristen können das Territorium verlassen, selbst wenn sie oberirdisch bombardiert werden. Diejenigen Tunnel, die Israel bislang geflutet hat, reichen nicht, um das System zu zerstören. Auch mit der geplanten Rafah-Operation wird Israel seine Ziele nicht erreichen. Israel wird die Hamas nicht zerstören. Denn ich gehe davon aus, dass Israel die Anführer der Hamas in einer solchen Operation weder fassen noch töten können wird.
Israel gibt aber immer wieder Tötungen von Hamas-Mitgliedern bekannt.
Diese Zahlen muss man sehr kritisch betrachten. Die Israelis zählen jeden Teenager, der 14 oder 15 Jahre alt ist, jeden Mann im kampffähigen Alter als potenziellen Hamas-Kämpfer. Wird einer von denen getötet, fliesst er als getöteter Hamas-Kämpfer in die Statistik ein. Das ist problematisch und erlaubt uns daher nicht, zu sagen, wie viele Hamas-Kämpfer bislang wirklich getötet worden sind, wie viel Prozent der Struktur der Hamas noch besteht.
Wie ist die Kriegsstrategie Israels grundsätzlich zu beurteilen?
Dafür muss ich etwas ausholen.
Bitte.
Natürlich ist die Hamas eine Terrororganisation. Aber: Die Kämpfer, die Milizen, die die Anschläge am 7. Oktober 2023 verübt haben, sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Hamas ist vor allem auch eine politische Organisation. Und am wichtigsten: Sie ist eine Bewegung. Diese Bewegung ist das Herzstück der Hamas. Die Menschen im Gaza-Streifen unterstützen die Hamas nicht, weil sie sie lieben, sondern weil sie sich irgendwie verteidigen müssen und auf die Unterstützung der Hamas angewiesen sind.
Wie sollte Israel darauf reagieren?
Der Widerstand muss gebrochen werden. Das hätte von Anfang an das strategische Ziel Israels sein müssen. Widerstand lässt sich durch Gewalt jedoch nicht brechen. Gewalt erzeugt lediglich Gegengewalt. Die Radikalisierung, die durch diesen Krieg entstanden ist, durch die unglaubliche Zerstörung und die enorm hohen Opferzahlen, ist riesig. Selbst wenn Israel die meisten Hamas-Kämpfer tötet: Der bewaffnete Widerstand würde sich neu organisieren. Das verstehen viele nicht.
Erklären Sie.
Viele der Personen, welche die Anschläge am 7. Oktober begangen haben, sind in Gaza aufgewachsen. Sie haben mehrere Kriege erfahren, extrem viel Leid erlebt. Sie waren einfach für die Idee des Widerstandes zu mobilisieren. Dasselbe wird jetzt wieder passieren. Jede Familie hat Verletzte und Tote zu beklagen, viele junge Männer werden sich wieder radikalisieren. Diese Radikalisierung wird genau das Gegenteil zur Folge haben, was Israel erreichen wollte. Mit militärischer Gewalt lässt sich die Hamas darum nicht auslöschen.
Was wäre die bessere Taktik?
Es braucht soziopolitische Lösungen. Man muss den Menschen Hoffnung geben, dass die Zukunft Gazas nicht in einer Blockade endet, sondern in einer Form von Selbstverwaltung, die es den Palästinensern erlaubt, sich selbst zu regieren. Nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland. Die Ansätze der internationalen Gemeinschaft für eine Zwei-Staaten-Lösung sind der Hoffnungsschimmer, den Israel den Palästinensern geben sollte, um deren Widerstandswillen zu brechen. Diese Hoffnung hat Israel der palästinensischen Bevölkerung jedoch genommen.
Worin zeigt sich das?
Israel hat keinen Plan, was die Palästinenserfrage betrifft. Die absolut rechten, radikalen Mitglieder in der Regierung von Benjamin Netanjahu machen ideologisch motivierte Politik. Sie äussern öffentlich immer wieder, dass sie keine Zwei-Staaten-Lösung wollen, sie rufen zu ethnischen Säuberungen, gar zum Genozid auf. Mit diesen Leuten lässt sich nicht verhandeln. Netanjahu ist kein Staatsmann, sondern ein sehr egozentrischer Politiker. Ihm geht es um sein politisches Überleben, nicht um die Sicherheit des Landes. Er hat sich dafür entschieden, mit Gegengewalt auf die Hamas-Anschläge am 7. Oktober zu reagieren. Rache kann jedoch niemals eine politische Strategie sein. Eine Lösung ist aktuell nicht in Sicht, die Diplomatie steckt fest.
Nach wie vor werden israelische Geiseln im Gaza-Streifen festgehalten. Gibt es da Fortschritte in den Verhandlungen?
Nein. Auch diese stecken fest. Das liegt sowohl an der israelischen Regierung als auch an der Hamas, die kein Interesse an Verhandlungen hat.
Wo liegt das Problem?
Bei den Forderungen beider Seiten gibt es wenig Überschneidungen. Das Verhältnis von Geiseln zu palästinensischen Gefangenen ändert sich stetig. Die Hamas will pro freigelassene Geisel mehr Gefangene zurückhaben als in der Vergangenheit. Gleichzeitig ist klar: Militärisch lassen sich die Geiseln nicht befreien, auch wegen der riesigen Tunnelsysteme nicht. Und was man leider auch sagen muss: Viele der Geiseln werden bereits tot sein. Wie viele noch leben, lässt sich im Moment nicht eindeutig feststellen.
Was sagen Sie zur Kritik am Palästinenserhilfswerk UNRWA? Israel warf Mitarbeitern des Hilfswerks vor, in die Anschläge vom 7. Oktober verwickelt zu sein. Ein nun veröffentlichter Bericht entlastet die UNRWA allerdings.
Das war eine weit angelegte Desinformationskampagne Israels. Sie hat dazu geführt, dass viele europäische Staaten und auch die USA die finanzielle Unterstützung vorübergehend eingestellt haben. Klar ist: Das Hilfswerk ist sehr breit vernetzt. Dass Kontakte zur Hamas bestehen, ist nicht verwunderlich. Das heisst aber nicht automatisch, dass Mitarbeitende der UNRWA Teil der Hamas sind und an den Anschlägen am 7. Oktober beteiligt waren. Die Zahlen, die Israel vorgelegt hat, zeigen zudem auch, dass sich die Vorwürfe an eine sehr kleine Zahl an UNRWA-Mitarbeitern richten. Dass man deswegen die ganze Infrastruktur infrage stellt, welche die einzige ist, die den Zivilisten im Gaza-Streifen helfen kann, ist extrem problematisch.
Zudem weiss ich nicht, weshalb man immer übersieht, für was die Likud-Partei steht: "... between the Sea and the Jordan there will only be Israeli sovereignty." Dieser Satz steht im Gründungsdokument der Partei von 1977. Netanjahu ist nur ein Kind dieser Partei.
Die aktuelle extremistische israelische Regierung schafft hier einen neuen Hass, der noch Jahrzehnte wirken wird.
Alle Eltern wollen einfach frieden und eine Zulunft für ihre Kinder.