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Joint im Mund, Heroin im Auto – und ab zur Jagd aufs Drogenkartell

Neu im Kino: «Inherent Vice»

Joint im Mund, Heroin im Auto – und ab zur Jagd aufs Drogenkartell

Der neue Film von Paul Thomas Anderson ist ein farbenprächtiger Abgesang auf die Hippie-Zeit, Kalifornien und den Typus des verpeilten Privatdetektivs.
08.02.2015, 19:1109.02.2015, 10:20
William Stern
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Wir schreiben das Jahr 1970. Die 60er waren einmal und ein Jahrzehnt voller antikommunistischer Aktivitäten, Richard «Tricky Dick» Nixon, outgesourcten Regierungsaufgaben und Privatisierungen zieht auf. Eine Ideologie löst die andere ab: Die Geburtsstunde des ungehemmten Neoliberalismus geht einher mit dem Niedergang der ersten 68er-Euphorie, und nirgendwo ist der Wandel drastischer spürbar als im sonnigen Kalifornien. Willkommen im Setting von «Inherent Vice».

The King mit Präsident Nixon anno 1970 im Weissen Haus.
The King mit Präsident Nixon anno 1970 im Weissen Haus.Bild: EPA/THE NATIONAL ARCHIVES/EPA FILES
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Wenn sich der Nebel aus Haschisch, Zigaretten und V8-Abgasen verzogen hat, wird klar: Es sind nicht so sehr die herkömmlichen Drogen, die diesen Film zum bewusstseinsverändernden Spektakel machen – wenn auch einige davon konsumiert werden: Heroin, Lachgas, PCP, Koks und Cannabis-Sorten, von denen dein Dealer noch nie gehört hat. Es sind vielmehr die Kleider und Kostüme, die Frisuren, die spärliche Möblierung in den von Erdbeben und Hangrutschen gefährdeten Holzverschlägen in der Schräglage des fiktiven Stadtteils Gordita Beach gleich unterhalb von Los Angeles. 

Es sind die Toupets und die kurzen Röcke, die abgetretenen Sandalen und die übergrossen Sonnenbrillen, die den Protagonisten Doc Sportello und Co. als Camouflage auf ihrem Trip zur unausweichlichen Ziellinie dienen, über der farbige Neonlicht-Buchstaben verkünden: Der Traum ist ausgeträumt. Die spontanen 68er-Happenings werden von organisierten Jubelorgien auf die «Good old american values» abgelöst, die dir einmal mehr die überall lauernde Möglichkeit des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär vorgaukeln. «It's the End of the World as we know it.» 

Wären die Jungs von REM ein paar Jährchen älter, sie hätten bestimmt eine Stippvisite gemacht.

Doc Sportello (Joaquin Phoenix) und sein Anwalt Sauncho Saunders (Benicio del Toro) beim informellen Klientengespräch. Bild: 20th Century Fox

Vom Roman zum Film

Doc Sportello, die Hauptfigur, ist Privatdetektiv wie er im Buch steht – was daran liegen mag, dass er im Buch steht. Thomas Pynchon, der Autor der gleichnamigen Buchvorlage, hat seinen Helden als Hommage auf Philip Marlowe und den Dude aus «The Big Lebowski» entworfen, und Regisseur Paul Thomas Anderson ist nicht weit von der Romanvorlage abgewichen. 

Sportello kifft sich durch zweieinhalb Stunden südkalifornische Gleichgültigkeit, muss sich mit Neonazis, Black-Panther-Aktivisten, Beach-Boys-Coverbands, Smack-Heads, reumütigen Immobilienhaien und FBI-Armleuchten herumschlagen, bevor er in der Endsequenz mit Shasta – Typ freizügige Hippie-Braut (pausbäckig: Katherine Waterston) – in seinem 64er Dodge Dart dem Sonnenuntergang entgegenfahren darf. 

Im Hintergrund trällert derweil Chuck Jackson «Any Day Now». Lange kann's nicht mehr dauern. Was genau, darüber lässt uns Anderson im Dunkeln. Wie Pynchon sagen würde: «Hey, who wants to know?» oder etwas vulgärer: «Hey, who gives a fuck?»

Plot, was für ein Plot?

Das könnte auch ganz gut als Motto für den Plot von «Inherent Vice» durchgehen. Stringenz ist weder die Sache von Pynchon, noch von Anderson und nichts muss rational erklärbar sein, wenn es nur die Handlung vorantreibt – die LSD-Blotters und die Joints, die typisch amerikanisch klein, krumm und pur gedreht werden, verzerren nicht nur die Sinneswahrnehmung der Protagonisten, sondern lassen auch die Handlung ganz schön schlagseitig dahinschlingern. 

Inherent Vice – der Cast

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Inherent Vice
Shasta Fay (Katherine Waterson), Ex-Freundin von Doc Sportello.
quelle: 20th century fox
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Immer ruft jemand zum richtigen Zeitpunkt an, immer trifft man die richtige Person in der richtigen Seitengasse im Makrokosmos Los Angeles, der nicht ganz so überschaubar ist wie derjenige von Mönchaltorf oder Einsiedeln. Personen tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden ebenso plötzlich wieder im Nebel der South Bay Area und man könnte schwören, einige Figuren wechseln im Lauf der 120 Filmminuten ihre Namen.

Immobilien-Tycoon 

Shasta übernimmt den Part des Deus Ex Machina, auch wenn sie zu Beginn des Films dem Doc ganz schön physisch ihre Aufwartung macht und ihm eröffnet, dass ein Komplott gegen den schwerreichen Immobilienhai Michael «Mickey» Wolfmann geplant sei. Kurz darauf verschwinden nicht nur Shasta, sondern auch Wolfmann himself und Sportello sieht sich gezwungen, seinen gedrungenen Körper vom klebrigen roten Leder seines Sofas zu hieven und allerlei Hebel in Bewegung zu setzen, um seine Ex-Freundin lebendig wiederzusehen. 

Trailer «Inherent Vice»

Hinter der Entführung von Wolfmann stecken Neonazis in allerbester Haudraufundschluss-Manier. Oder war es nicht vielleicht doch eine FBI-Inszenierung? Ah nein, ein Inside Job und Wolfmann hat sich absichtlich von seinen Getreuen verschleppen lassen, um... um was genau? Who gives a fuck. 

Doc Sportello, der weder praktizierender Doktor ist noch einen anderen Titel vorweisen kann, sondern seinen Namen trägt, weil er als Privatfahnder früher einmal statt einer gewöhnlichen Feuerwaffe eine Spritze mit einem Wahrheitsserum mit sich herumtrug, und sein dümmlicher Sidekick Denis  (Jordan Christian Hearn) kommen im Lauf der Ermittlungen dem «Goldenen Fang», einem mysteriösen Drogensyndikat, auf die Spur. 

Auf grossem Fuss

Grösstes Hindernis auf dem Weg zum schmachtenden Sonnenuntergang (oder ist es ein Sonnenaufgang? Who gives a fuck), sind nicht aber weder Kokain-Kartelle, noch die Aryan-Brotherhood-Rocker und auch nicht die FBI-Leuchten Flatweed (Sam Jaeger) und Borderline (Timothy Simons), die Sportello für eine Zusammenarbeit nicht nur mit 300 Dollar, sondern auch mit einer gratis Ausgabe des Buches der Mormonen ködern. 

Es sind die zum Jähzorn neigende Rampenlichtsau Lt. Detective Christian F. Bigfoot Bjornsen und die hinderliche Angewohnheit Sportellos, beim Sprechen den Mund so wenig zu öffnen, wie möglich und stattdessen zu stammeln und murmeln und brummeln und tuscheln und sauseln und seufzen.

Doc Sportello (links) und der Polizist Bigfoot Bjornsen (Josh Brolin) kommen aus verschiedenen Welten: Links die anarchische Mähne, rechts der stramme Bürstenhaarschnitt. Bild: 20th Century Fox

Bigfoot ist so was wie der bärbeissig auf die Welt gekommene Polizist aus Maloney, Tom's Jerry, Mickey Maus' Kater Karlo oder der böse blonde Junge aus Harry Potter: Der Widersacher, der die Schicksalswaage im Gleichgewicht hält oder in California-Sprache: Für den Ausgleich des ewigen Karmas sorgt. Dafür muss Bigfoot, im Massanzug und immer kurz vor dem Ausbruch (bürokratisch-impulsiv: Josh Brolin) halt von Zeit zu Zeit wie ein Wrestler Doc auf den Rippen herumtrampeln oder dessen Kofferraum 20 Kilo H (sprich: Heroin) deponieren und den Cops anschliessend einen Tipp geben.

Ach ja, und dann sind dann auch noch Owen Wilson als Ex-Junkie und unfreiwilliger Polizeispitzel Coy Harlingen, zwei Lesben, die an nichts anderes als ans Lecken denken können, Neil Young, der aus stilvollen Lautsprecher-Membranen plärrt, das letzte Abendmahl, zwei grüne Telefone, und das samtige Gefühl, dass trotz latenter und manifester (Drogen-) Paranoia schon alles irgendwie von irgendwem ins Lot gebracht werden wird, mit Ausnahme vielleicht der Geschichte im Weltformat. «It's the End of the World as we know it».

Pizza statt Brot, Liebesketten statt Heiligenschein: Das letzte Abendmahl, wenn es 1970 stattgefunden hätte.Bild: 20th Century Fox

Er habe sich für «Inherent Vice» von Screwball-Komödien wie «Top Secret», «Airplane», oder «The Naked Gun» inspirieren lassen, erzählt Regisseur Paul Thomas Anderson im Interview mit der New York Times. Das sieht man «Inherent Vice» an: Gagfeuerwerke zünden im Minutentakt, die Dialoge taumeln immer hart an der Grenze zum Schildbürgerterritorium entlang. 

«The Naked Gun»

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gif: watson/youtube

Wo ist Pynchon?

Und Pynchon? Gefällt ihm der Film? Immerhin ist es die erste Leinwandadaption seines Ouevres – bisher hat noch jeder Regisseur die Finger von den Romanen des geheimnisumwobenen Autors gelassen. Unverfilmbar, so lautet das einhellige Fazit in den Studios von Burbank bis Culver City. Paul Thomas Anderson («Boogie Nights», «Magnolia», «There Will Be Blood») war anderer Meinung. Schon «Vineland» (1999) hatte es dem 44-Jährigen angetan, bei «Inherent Vice» hat er zugegriffen. 

Pynchon, so das Gerücht, das der Schauspieler Josh Brolin offenbar kräftig zu verbreiten half, habe ein Cameo im Film. Anderson wiegelte zwar ab, tat dies aber nicht allzu überzeugend. Es wäre einer der seltenen Auftritte des Mr. X der amerikanischen Literaturszene. Bloss eine Handvoll Fotos von Pynchon zirkulieren im Netz, das bekannteste datiert aus der High-School-Zeit und zeigt einen pubertierenden Jungen mit beachtlichen Schaufelzähnen. Eben diese, so eine Legende, sollen einer der Gründe für Pynchons Eremitendasein sein. 

Oscar-Verleihung
Paul Thomas Anderson und seine Crew dürfen sich Hoffnungen auf einen Oscar machen. «Inherent Vice» ist für das beste adaptierte Drehbuch und für das beste Kostümdesign nominiert. Für Anderson wäre es nach 17 Nominationen (u.a. für «Boogie Nights», «Magnolia» und «There Will Be Blood») die erste solche Auszeichnung.
Thomas Pynchon, 1953 in einem High-School-Jahrbuch.
Thomas Pynchon, 1953 in einem High-School-Jahrbuch.wikimedia

Versuche von Journalisten, dem zurückgezogen irgendwo im Moloch Manhattan residierenden Autor ein Interview zu entlocken, schlagen regelmässig fehl. Nur den «Simpsons»-Machern scheint der 77-jährige gewogen. Drei Mal hat Pynchon bis dato seinem gelben Ich die Stimme geliehen, jedes Mal mit einer Tüte, auf der ein Fragezeichen gepinselt ist, auf dem Kopf.

«Inherent Vice» läuft ab 12. Februar im Kino.

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