Mohammad Rassuljar war so verzweifelt, dass er den Hilferuf öffentlich machte. «Während ich dies schreibe, steht Helmand vor dem Kollaps! Herr Präsident Ghani, es ist dringend erforderlich, dass Sie hierherkommen», schrieb der stellvertretende Gouverneur der Provinz Helmand auf seine Facebook-Seite. Innerhalb weniger Minuten erreichte sein Flehen am Sonntag die afghanischen, dann die internationalen Medien.
Seitdem ist klar: Die afghanischen Sicherheitskräfte verlieren einen weiteren Kampf gegen die Taliban. Im September hatten diese bereits das Zentrum der Nordprovinz Kundus für einige Tage in ihrer Gewalt. Es war bis zu dem Zeitpunkt der grösste militärische Erfolg der Aufständischen gewesen.
Helmand aber wäre ein noch weit grösserer. Die Provinz ist das Zentrum von Drogenanbau und Opiumhandel in Afghanistan. Wer hier herrscht, hat Zugang zu Milliardeneinnahmen. Die jüngsten Nachrichten aus Afghanistan lassen keine Zweifel daran, wer in Afghanistan zum Ende des auslaufenden Jahres die Oberhand hat.
Der neue Präsident des Landes, Aschraf Ghani, hatte der rasanten Verschlechterung der Sicherheitslage 2015 wenig entgegenzusetzen. Nach der Wahl im September des Vorjahres hatte er versprochen, alles solle besser werden: Sicherheit, Schutz der Menschenrechte, Regierungsführung. Aber dann dauerte es allein sieben Monate, bis im April 2015 das Kabinett vollständig war.
Oder besser: fast vollständig. Einen Verteidigungsminister hat das Land im Kriegszustand immer noch nicht. Das Parlament hat bisher alle Kandidaten abgelehnt. Der letzte abgelehnte Bewerber, Massum Staneksai, amtiert nun einfach illegal.
Erfolge hatte diese Regierung 2015 nur wenige aufzuweisen. Der wichtigste war wohl, dass Aschraf Ghani es geschafft hat, das Verhältnis mit den Geldgebern zu reparieren. Vor allem das mit den USA, die der vorherige, langjährige Präsident Hamid Karzai gründlich verärgert hatte.
Auch darauf ist zurückzuführen, dass die NATO jüngst beschloss, den Abzug aus Afghanistan zu stoppen und 12'000 Soldaten im Land zu lassen.
«Das wird aber nicht dabei helfen, die Talibanangriffe auf den Staat in der Fläche zu verringern», warnt der Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan, Alexey Yusupov. Allenfalls könnten grosse Städte vor dem Fall bewahrt werden, wenn sie akut bedroht würden.
Das Kampfmandat der NATO lief Ende 2014 aus. Und von den 12'000 Soldaten, die nun bleiben, wird der Löwenanteil mit der Verwaltung des Einsatzes beschäftigt sein. Gleichzeitig hiess es im Herbst aus afghanischen Regierungskreisen, 180 der etwa 400 Bezirke im Land seien entweder umkämpft oder unter der Herrschaft der Taliban.
Die Zahl der zivilen Opfer hat einen Rekordstand erreicht. Allein in der ersten Jahreshälfte wurden laut UNO 1592 Zivilisten getötet und 3329 weitere verletzt. Ein Viertel der Opfer waren Kinder. All dies verstärkt nur den Willen vieler Afghanen, ihr Land Richtung Europa zu verlassen.
Es verstärkt auch ihre Wut auf das Versagen der Regierung. Und damit die Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung. «Vor allem unter den gebildeten, jungen Afghanen suchen viele nach Alternativen», sagt der Extremismusexperte des Afghanistan Analysts Network, Borhan Osman. «Sie fragen sich, ob Afghanistan als islamisches Kalifat fairer mit ihnen umgehen würde.»
Die Radikalisierung spiele sich vor allem an den Universitäten ab. Die Gruppen seien noch klein, wüchsen aber rasch. Der Demokratieversuch versage, fänden diese jungen Afghanen. Sie sähen keine Sicherheit für ihre Familien und immer weniger Chancen auf Bildung und Arbeit. Das ist ein gefährlicher Trend. Laut UNO sind 63 Prozent der Afghanen unter 25 Jahre alt.
Und Frieden mit den Islamisten ist weit weg. Im Juli sah es kurz danach aus. Damals gab es ein von Pakistan unterstütztes Treffen von Taliban mit der afghanischen Regierung.
Aber nur einen Tag vor der zweiten geplanten Zusammenkunft wurde plötzlich von unbekannter Seite die Nachricht vom Tode des langjährigen Talibanchefs Mullah Omar lanciert. Dessen Ableben hatten die Taliban aus Angst vor internen Zerwürfnissen zwei Jahre lang geheim gehalten. Die Extremisten waren plötzlich inmitten eines blutigen Nachfolgekampfes, der bis heute andauert. Die Gespräche brachen zusammen.
Afghanistan, Pakistan, China und die USA wollten in den letzten Tagen des alten Jahres einen neuen Versuch machen. Bald würden wieder Treffen mit Taliban angesetzt, sagten sie. Die Taliban antworteten mit grossen Anschlägen in Kandahar und Kabul und mit einer Twitter-Nachricht: Man zerstöre den Feind und gewinne Gelände an allen Fronten – sie zur Aufgabe aufzufordern, sei schlicht Dummheit. (sda/dpa)