Jeden Abend wird Joe Biden auf Fox News als Tattergreis verunglimpft. Er sei senil, ja beinahe dement, tripple unsicher, verliere immer wieder mal die Orientierung, verspreche sich laufend und müsse spätestens um 21 Uhr zu Bett gehen, höhnen Sean Hannity & Co.
So kann man sich irren. Gestern hat die Welt Joe Biden, den Unerschrockenen, kennengelernt. Als erster amerikanischer Präsident hat er sich ohne den Schutz eigener Soldaten in Feindesland gewagt. Er hat eine zehnstündige Reise in einem holprigen Zug zweimal auf sich genommen, um just zum Jahrestag, an dem die Ukrainer ihren verhassten Staatschef Viktor Janukowitsch verjagt haben, in Kiew einzutreffen und dort dem legitimen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj seine Unterstützung zu versichern – vor laufenden Kameras und begleitet von Sirenengeheul.
Okay, die Sirenen mögen geschickte Inszenierung gewesen sein, doch der Anlass war Joe Biden at his best. Sein Überraschungscoup in der Ukraine war nicht nur historisch, er war auch ein Lehrstück in Sachen Propaganda. Und er hat gleichzeitig zwei zentrale Anliegen Bidens in sich vereint.
Die Ukraine hat Biden schon als Vizepräsident mehrmals besucht, sie ist eine Herzensangelegenheit für ihn geworden. Vor dem Abschied bekannte er denn auch: «Ich muss gestehen, Kiew ist mir ans Herz gewachsen.»
Ebenso wichtig ist dem US-Präsidenten der Kampf um die Demokratie. Putin, Xi Jinping, Viktor Orban & Co. sind eine grosse Gefahr für das Überleben der liberalen Weltordnung geworden, Nationalismus, Populismus, ja gar Neo-Faschismus sind auf dem Vormarsch. Immer wieder betont Biden daher, bei Putins abscheulichem Angriff gehe es um mehr als nur um das Schicksal der Ukraine.
Einmal mehr betonte der US-Präsident dies auch in seiner Rede in Kiew. «Es war für mich entscheidend, zu demonstrieren, dass es keinen, aber wirklich keinen Zweifel an der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine geben darf. Denn es geht nicht nur um die Freiheit der Ukraine. Es geht um die Freiheit für die Demokratie generell.»
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Biden dieser historische Propaganda-Coup gelungen ist. Das Leben hat diesem Mann schwere Schicksalsschläge zugefügt und ihn gelehrt, sie stoisch zu akzeptieren. Seine erste Frau und seine Tochter sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, einer seiner beiden Söhne ist an einem Gehirntumor gestorben. «Das hat mich grossen Respekt vor dem Schicksal gelehrt», so Biden.
Mehr noch, Eugene Robinson, Kolumnist bei der «Washington Post», zitiert aus einem Buch, das Biden 2007 verfasst hat, wie folgt: «Vielleicht hätte ich an diesem Punkt grosse Angst verspüren müssen. Ich war ganz ruhig, ja, ich fühlte mich, wie wenn ich sanft auf einer Welle im Meer getrieben hätte. Das hat mich überrascht, aber ich habe jegliche Angst vor dem Tod verloren.»
Biden ist zwar kein Buddhist, er ist aber ein gläubiger Katholik, der es als seine Mission akzeptiert hat, Putin & Co. die Stirn zu bieten, und alles dafür gibt, diese Mission auch zu erfüllen.
Sicher, der 80 Jahre alte Joe Biden vermag sein Alter nicht zu verbergen. Trotzdem hebt er sich positiv von seinem zehn Jahre jüngeren Gegenpart ab. Während der US-Präsident im Sirenengeheul zusammen mit Selenskyj entschlossen durch Kiew marschiert, sitzt Putin bleich hinter seinem grotesk grossen Tisch und zappelt mit den Füssen.
Der russische Präsident hat sich heute ebenfalls zu Wort gemeldet. In seiner Version einer «state of the union»-Rede hat er einmal mehr seinen nicht zu rechtfertigenden Krieg gerechtfertigt, vor dem von Homosexualität und Satanismus verseuchten Westen gewarnt und die NATO gegeisselt.
Dabei läuft es für ihn auf dem Schlachtfeld überhaupt nicht wunschgemäss. Obwohl die russische Armee und ihre Söldnertruppe Wagner britischen Angaben zufolge gegen 200’000 Opfer zu beklagen haben, können sie keine nennenswerten Erfolge vorweisen. Daher sieht sich Putin gezwungen, sich zunehmend in die Abhängigkeit der Chinesen zu begeben.
Wang Yi, der ranghöchste chinesische Aussenpolitiker, ist deswegen in Moskau eingetroffen. Worüber er mit seinen russischen Kollegen verhandelt, ist nicht bekannt. Über das Wochenende hat Wang an der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt, China wolle bald einen Friedensplan für die Ukraine vorlegen. Gleichzeitig hat US-Aussenminister Antony Blinken die Befürchtung geäussert, Peking wolle bald Waffen nach Russland liefern. Diese Warnung war verbunden mit einer Drohung, dass die USA sehr heftig und entschlossen darauf reagieren würden.
Xi Jinping tut gut daran, diese Warnung ernst zu nehmen. Sein angeblich bester Kollege Wladimir Putin muss derzeit erfahren, dass mit dem US-Präsidenten nicht zu spassen ist. Oder wie es Eugene Robinson ausdrückt: «Niemand kann Putin daran hindern, einen Krieg anzuzetteln. Aber Biden kann – und er wird auch – ihn daran hindern, diesen Krieg zu gewinnen.»
Jeder hat gesehen, wer in Kiev spazieren geht und wer nicht im Donbas spazierte. Da hat, im symbolischen Sinne, ein alter Mann den russischen Helden, der bisher mit nacktem Oberkörper zu Pferde jeder Wildnis trotzte, ohne Berührung ko-mässig vom Gaul geholt.