Der Begriff Cäsarenwahn wird auf Herrschergestalten angewendet, die sich masslos selbst überschätzen und für ihr Amt vollkommen ungeeignet sind. Er stammt aus dem alten Rom und bezog sich ursprünglich auf Kaiser Caligula. Heutige Historiker sehen ihn differenzierter, aber eine Lichtgestalt war der für seine Grausamkeit berüchtigte Caligula sicher nicht.
Er regierte von 37 bis 41 und wurde von der eigenen Prätorianergarde ermordet. Zuvor hatte er versucht, den Senat auszuschalten, auch durch Folter und Hinrichtungen, und sich zum Alleinherrscher im Römischen Reich zu erheben. Sucht man heute nach Beispielen für Cäsarenwahn, so denkt man fast unweigerlich an einen Namen: Donald Trump.
Der ehemalige US-Präsident mag kein Gewaltherrscher sein wie Caligula, aber seine Amtszeit dauerte ebenfalls vier Jahre. Und der Hass auf «seinen» Senat kulminierte in jenen «Tag der Schande» am 6. Januar, als enthemmte Trump-Fans das Kapitol in Washington stürmten, um die Bestätigung von Joe Bidens Wahlsieg zu verhindern.
Es war der unrühmliche Tiefpunkt einer turbulenten Zeit. Begonnen hatte alles in der Wahlnacht vor genau einem Jahr. Anfangs sah es gut aus für «Cäsar» Trump. Er gewann überraschend deutlich in den klassischen Swing States Florida und Ohio. «Jetzt müssen wir weitere vier Jahre mit diesem A... aushalten», fluchte ein watson-Kollege.
Für die Wende sorgte ausgerechnet Trumps «Haussender» Fox News, als er Joe Biden zum Sieger in Arizona erklärte, wo seit Jahr und Tag kein Demokrat gewonnen hatte. Während Trump im Weissen Haus ausrastete und sich tief in der Nacht faktisch zum Sieger der Wahl ausrief, schwenke das Pendel in der Realität zunehmend in Bidens Richtung.
Die Auszählung aber zog sich über quälend lange Tage hin, bis die grossen US-Medien am folgenden Samstag Joe Biden zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärten – während zeitgleich eine bizarre Medienkonferenz von Trump-Anwalt Rudy Giuliani vor einer Gärtnerei mit dem Namen «Four Seasons» in einem Vorort von Philadelphia stattfand.
Damit war die Sache mitnichten gegessen. Es folgten Wochen, in denen sich Donald Trump in seine Variante des Cäsarenwahns hineinsteigerte. Darin war er zum Opfer eines gigantischen Wahlbetrugs geworden. «Stop the Steal» lautete die Parole von Trumps fanatischem Anhang. Joe Bidens Sieg war demnach eine «Big Lie», eine grosse Lüge.
In diesen Wochen hätte vieles schief laufen können. Weil republikanische Spitzenpolitiker in umkämpften Staaten wie Arizona und Georgia ihren Amtseid höher gewichteten als die Loyalität zu «ihrem» Präsidenten, konnte Bidens Erfolg ordentlich zertifiziert werden. Denn für Betrug bei der Briefwahl oder sonstwo gab es nicht die geringsten Hinweise.
Das kümmerte Trump und seinen Anhang nicht und führte letztlich zum Desaster am 6. Januar. Vizepräsident Mike Pence konnte sich damals nur knapp vor dem Mob in Sicherheit bringen. Auf ihn richtete sich besonders viel Hass, denn obwohl er stets loyal gegenüber Trump war, sorgte er von Amtes wegen für die Absegnung von Bidens Wahlsieg.
Die «Washington Post» veröffentlichte am Wochenende eine umfassende Recherche zum Angriff auf das Kapitol. Spektakuläre Erkenntnisse enthält sie nicht, aber sie zeigt, dass es im Vorfeld unzählige Warnsignale gab, die von FBI und Capitol Police ignoriert oder verharmlost wurden. Trump selbst hatte schon im Wahlkampf entsprechende Andeutungen gemacht.
Am «Tag der Schande» selbst wiegelte er den Mob auf und nahm schliesslich widerwillig eine Videobotschaft auf, in der er ihn zum Rückzug aufrief, nicht ohne ein weiteres Mal das Märchen von der Big Lie zu verbreiten. Genauso widerwillig verliess er am Tag von Joe Bidens Vereidigung das Weisse Haus – ihm waren schlicht die Optionen ausgegangen.
Ruhe ist damit nicht eingekehrt, im Gegenteil. Donald Trump geistert als «Zombie» durch die amerikanische Politik und lebt seinen Cäsarenwahn ungehemmt aus. Wann immer er sich öffentlich äussert, jammert er über den ihm angeblich gestohlenen Wahlsieg. Obwohl selbst eine skandalträchtige Nachzählung in Arizona nichts Zählbares in diese Richtung ergab.
Für die Republikaner könnte Trumps Obsession zur Falle werden. Er ist mit seinen ihm ergebenen Fans zum wichtigsten Machtfaktor in der Partei geworden. Anfangs überboten sich die Republikaner mit Treueschwüren zum abgewählten Präsidenten. Im Kongress schmetterten sie ein von den Demokraten angestrebtes Impeachment-Verfahren ab.
Kritiker wie Liz Cheney, die als eine von nur zehn republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus für das Impeachment stimmte, wurden ausgegrenzt. Nun aber gehen Republikaner auf vorsichtige Distanz zu ihrem von der Big Lie besessenen Ex-Präsidenten. Zum Beispiel Glenn Youngkin, der am Dienstag Gouverneur von Virginia werden will.
Dort hatte Biden vor einem Jahr mit zehn Prozentpunkten Vorsprung gewonnen. Weshalb Youngkin sich im Wahlkampf bemühte, den Namen Trump nicht zu erwähnen. Mit ihm blicken lassen wollte er sich erst recht nicht. Die Strategie könnte aufgehen, denn viele sind enttäuscht über Präsident Bidens bisherige Bilanz und die generelle Lage der Nation.
Fraglich ist, ob sie anderswo funktioniert. Donald Trump hasst mangelnde Loyalität. Seine Attacken auf den Gouverneur und den Staatssekretär von Georgia, die Bidens Wahlsieg zertifiziert hatten, sorgten nach Ansicht auch konservativer Kommentatoren dafür, dass die Republikaner gleich beide Senatssitze im «Peach State» an die Demokraten verloren hatten.
Dank diesem unerwarteten Doppelerfolg in der Stichwahl am 5. Januar hat Präsident Biden überhaupt eine Chance, zumindest einen Teil seiner Agenda umzusetzen. Trumps endlose und teilweise widersprüchliche Big-Lie-Vorwürfe könnten den Republikanern noch Kopfzerbrechen bereiten, bei den Midterms 2022 oder der Präsidentschaftswahl 2024.
Vieles deutet darauf hin, dass Donald Trump es dann noch einmal versuchen will. Er hat schon Millionen dafür gesammelt. Allerdings ist seine Sprunghaftigkeit berüchtigt. Er hat die Basis der Republikaner auch schon mehr oder weniger explizit aufgefordert, nicht an den nächsten Wahlen teilzunehmen, solange die Betrugsvorwürfe nicht geklärt seien.
Faktisch sind sie das längst, eine Mehrheit der Amerikaner betrachtet Joe Biden als legitimen Präsidenten. Dennoch wagen sich erst wenige Republikaner aus der Deckung, etwa der Abgeordnete Adam Kinzinger aus Illinois, der als einziges Mitglied seiner Partei neben Liz Cheney im Untersuchungsausschuss zum 6. Januar Einsitz genommen hat.
Letzte Woche kündigte Kinzinger an, bei den Midterms nicht mehr antreten zu wollen. Ein Grund ist die neue Wahlkreiseinteilung durch die Demokraten in Illinois, doch am Sonntag ging er auf ABC News auch hart ins Gericht mit den rund 190 Republikanern im Repräsentantenhaus, die vor Trump kuschen und «den Kopf in den Sand stecken» würden.
Nur wenige seien bereit, gegen «das Krebsgeschwür aus Lügen, Verschwörungen und Unehrlichkeit in der Republikanischen Partei zu kämpfen», sagte Kinzinger. Kurzfristig könnte sich das für die Partei sogar auszahlen. Aber die Geschichte lehrt, dass es mit Potentaten, die dem Cäsarenwahn verfallen sind, meist ein übles Ende nimmt.
Klar, leider kommen mir ganz ohne Probleme noch weitere, aktuellere Namen, in den Sinn: Erdogan, Putin, Lukaschenko, Bolsonaro, Duda... Also kein Suchen nach Beispielen nötig.
Gute Zusammenfassung, aber für mich zuviel könnte und vielleicht, also nichts neues...