International
Analyse

Ein Jahr nach der US-Wahl: Trump und der «Cäsarenwahn»

epaselect epa09515989 Former US President Donald J. Trump gestures to supporters at a Save America rally at the Iowa State Fairgrounds in Des Moines, Iowa, USA, 09 October 2021. The rally highlights T ...
Jammern über die Big Lie: Donald Trump bei einem Rally am 9. Oktober in Iowa.Bild: keystone
Analyse

Trumps «Cäsarenwahn» wird zur Falle für die Republikaner

Ein Jahr nach der US-Präsidentschaftswahl ist Donald Trump mehr denn je von der Idee besessen, dass er sein Amt nur durch Wahlbetrug verloren hat. Damit könnte er seiner Partei langfristig schwer schaden.
02.11.2021, 13:3402.11.2021, 13:56
Mehr «International»

Der Begriff Cäsarenwahn wird auf Herrschergestalten angewendet, die sich masslos selbst überschätzen und für ihr Amt vollkommen ungeeignet sind. Er stammt aus dem alten Rom und bezog sich ursprünglich auf Kaiser Caligula. Heutige Historiker sehen ihn differenzierter, aber eine Lichtgestalt war der für seine Grausamkeit berüchtigte Caligula sicher nicht.

Er regierte von 37 bis 41 und wurde von der eigenen Prätorianergarde ermordet. Zuvor hatte er versucht, den Senat auszuschalten, auch durch Folter und Hinrichtungen, und sich zum Alleinherrscher im Römischen Reich zu erheben. Sucht man heute nach Beispielen für Cäsarenwahn, so denkt man fast unweigerlich an einen Namen: Donald Trump.

Chaos in Washington

Video: watson/een

Der ehemalige US-Präsident mag kein Gewaltherrscher sein wie Caligula, aber seine Amtszeit dauerte ebenfalls vier Jahre. Und der Hass auf «seinen» Senat kulminierte in jenen «Tag der Schande» am 6. Januar, als enthemmte Trump-Fans das Kapitol in Washington stürmten, um die Bestätigung von Joe Bidens Wahlsieg zu verhindern.

Wende durch Fox News

Es war der unrühmliche Tiefpunkt einer turbulenten Zeit. Begonnen hatte alles in der Wahlnacht vor genau einem Jahr. Anfangs sah es gut aus für «Cäsar» Trump. Er gewann überraschend deutlich in den klassischen Swing States Florida und Ohio. «Jetzt müssen wir weitere vier Jahre mit diesem A... aushalten», fluchte ein watson-Kollege.

Für die Wende sorgte ausgerechnet Trumps «Haussender» Fox News, als er Joe Biden zum Sieger in Arizona erklärte, wo seit Jahr und Tag kein Demokrat gewonnen hatte. Während Trump im Weissen Haus ausrastete und sich tief in der Nacht faktisch zum Sieger der Wahl ausrief, schwenke das Pendel in der Realität zunehmend in Bidens Richtung.

Die Auszählung aber zog sich über quälend lange Tage hin, bis die grossen US-Medien am folgenden Samstag Joe Biden zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärten – während zeitgleich eine bizarre Medienkonferenz von Trump-Anwalt Rudy Giuliani vor einer Gärtnerei mit dem Namen «Four Seasons» in einem Vorort von Philadelphia stattfand.

Trumps geleaktes Telefonat

Video: watson/een

Damit war die Sache mitnichten gegessen. Es folgten Wochen, in denen sich Donald Trump in seine Variante des Cäsarenwahns hineinsteigerte. Darin war er zum Opfer eines gigantischen Wahlbetrugs geworden. «Stop the Steal» lautete die Parole von Trumps fanatischem Anhang. Joe Bidens Sieg war demnach eine «Big Lie», eine grosse Lüge.

Die aufrechten Republikaner

In diesen Wochen hätte vieles schief laufen können. Weil republikanische Spitzenpolitiker in umkämpften Staaten wie Arizona und Georgia ihren Amtseid höher gewichteten als die Loyalität zu «ihrem» Präsidenten, konnte Bidens Erfolg ordentlich zertifiziert werden. Denn für Betrug bei der Briefwahl oder sonstwo gab es nicht die geringsten Hinweise.

Das kümmerte Trump und seinen Anhang nicht und führte letztlich zum Desaster am 6. Januar. Vizepräsident Mike Pence konnte sich damals nur knapp vor dem Mob in Sicherheit bringen. Auf ihn richtete sich besonders viel Hass, denn obwohl er stets loyal gegenüber Trump war, sorgte er von Amtes wegen für die Absegnung von Bidens Wahlsieg.

Unzählige Warnsignale

Die «Washington Post» veröffentlichte am Wochenende eine umfassende Recherche zum Angriff auf das Kapitol. Spektakuläre Erkenntnisse enthält sie nicht, aber sie zeigt, dass es im Vorfeld unzählige Warnsignale gab, die von FBI und Capitol Police ignoriert oder verharmlost wurden. Trump selbst hatte schon im Wahlkampf entsprechende Andeutungen gemacht.

epa09488853 A supporter of former US President Donald Trump holds up a 'Trump Won' banner at a rally sponsored by 'Save America' at the Georgia National Fairgrounds in Perry, Georg ...
Viele Trump-Fans glauben an den gestohlenen Wahlsieg.Bild: keystone

Am «Tag der Schande» selbst wiegelte er den Mob auf und nahm schliesslich widerwillig eine Videobotschaft auf, in der er ihn zum Rückzug aufrief, nicht ohne ein weiteres Mal das Märchen von der Big Lie zu verbreiten. Genauso widerwillig verliess er am Tag von Joe Bidens Vereidigung das Weisse Haus – ihm waren schlicht die Optionen ausgegangen.

Jammern über die Big Lie

Ruhe ist damit nicht eingekehrt, im Gegenteil. Donald Trump geistert als «Zombie» durch die amerikanische Politik und lebt seinen Cäsarenwahn ungehemmt aus. Wann immer er sich öffentlich äussert, jammert er über den ihm angeblich gestohlenen Wahlsieg. Obwohl selbst eine skandalträchtige Nachzählung in Arizona nichts Zählbares in diese Richtung ergab.

Für die Republikaner könnte Trumps Obsession zur Falle werden. Er ist mit seinen ihm ergebenen Fans zum wichtigsten Machtfaktor in der Partei geworden. Anfangs überboten sich die Republikaner mit Treueschwüren zum abgewählten Präsidenten. Im Kongress schmetterten sie ein von den Demokraten angestrebtes Impeachment-Verfahren ab.

Auf Distanz zu Trump

Kritiker wie Liz Cheney, die als eine von nur zehn republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus für das Impeachment stimmte, wurden ausgegrenzt. Nun aber gehen Republikaner auf vorsichtige Distanz zu ihrem von der Big Lie besessenen Ex-Präsidenten. Zum Beispiel Glenn Youngkin, der am Dienstag Gouverneur von Virginia werden will.

Republican gubernatorial candidate Glenn Youngkin gestures as he speaks to supporters during a rally in Chesterfield, Va., Monday, Nov. 1, 2021. Youngkin will face Democrat former Gov. Terry McAuliffe ...
Glenn Youngkin meidet im Wahlkampf in Virginia die Nähe zu Trump.Bild: keystone

Dort hatte Biden vor einem Jahr mit zehn Prozentpunkten Vorsprung gewonnen. Weshalb Youngkin sich im Wahlkampf bemühte, den Namen Trump nicht zu erwähnen. Mit ihm blicken lassen wollte er sich erst recht nicht. Die Strategie könnte aufgehen, denn viele sind enttäuscht über Präsident Bidens bisherige Bilanz und die generelle Lage der Nation.

Debakel in Georgia

Fraglich ist, ob sie anderswo funktioniert. Donald Trump hasst mangelnde Loyalität. Seine Attacken auf den Gouverneur und den Staatssekretär von Georgia, die Bidens Wahlsieg zertifiziert hatten, sorgten nach Ansicht auch konservativer Kommentatoren dafür, dass die Republikaner gleich beide Senatssitze im «Peach State» an die Demokraten verloren hatten.

Dank diesem unerwarteten Doppelerfolg in der Stichwahl am 5. Januar hat Präsident Biden überhaupt eine Chance, zumindest einen Teil seiner Agenda umzusetzen. Trumps endlose und teilweise widersprüchliche Big-Lie-Vorwürfe könnten den Republikanern noch Kopfzerbrechen bereiten, bei den Midterms 2022 oder der Präsidentschaftswahl 2024.

Millionen gesammelt

Vieles deutet darauf hin, dass Donald Trump es dann noch einmal versuchen will. Er hat schon Millionen dafür gesammelt. Allerdings ist seine Sprunghaftigkeit berüchtigt. Er hat die Basis der Republikaner auch schon mehr oder weniger explizit aufgefordert, nicht an den nächsten Wahlen teilzunehmen, solange die Betrugsvorwürfe nicht geklärt seien.

Diese Republikaner haben sich von Trump abgewandt

1 / 20
Diese Republikaner haben sich von Trump abgewandt
Der ehemalige republikanische Präsident George W. Bush hat Biden und Harris bereits einen Tag, nachdem sie als Gewinner und Gewinnerin verkündet wurden, gratuliert.
quelle: keystone / rich schultz
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Faktisch sind sie das längst, eine Mehrheit der Amerikaner betrachtet Joe Biden als legitimen Präsidenten. Dennoch wagen sich erst wenige Republikaner aus der Deckung, etwa der Abgeordnete Adam Kinzinger aus Illinois, der als einziges Mitglied seiner Partei neben Liz Cheney im Untersuchungsausschuss zum 6. Januar Einsitz genommen hat.

Kampf gegen Krebsgeschwür

Letzte Woche kündigte Kinzinger an, bei den Midterms nicht mehr antreten zu wollen. Ein Grund ist die neue Wahlkreiseinteilung durch die Demokraten in Illinois, doch am Sonntag ging er auf ABC News auch hart ins Gericht mit den rund 190 Republikanern im Repräsentantenhaus, die vor Trump kuschen und «den Kopf in den Sand stecken» würden.

Nur wenige seien bereit, gegen «das Krebsgeschwür aus Lügen, Verschwörungen und Unehrlichkeit in der Republikanischen Partei zu kämpfen», sagte Kinzinger. Kurzfristig könnte sich das für die Partei sogar auszahlen. Aber die Geschichte lehrt, dass es mit Potentaten, die dem Cäsarenwahn verfallen sind, meist ein übles Ende nimmt.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Donald Trump verlässt das Weisse Haus
1 / 19
Donald Trump verlässt das Weisse Haus
Mit dem heutigen Tag enden vier Jahren Präsidentschaft von Donald Trump. Eine letzte Rede vor seinen Anhängern, dann verabschiedet sich der scheidende Präsident.
quelle: keystone / manuel balce ceneta
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Highlights von Bidens Antrittsrede
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
47 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Drachenherz
02.11.2021 13:51registriert Juni 2019
"Sucht man heute nach Beispielen für Cäsarenwahn, so denkt man fast unweigerlich an einen Namen: Donald Trump"
Klar, leider kommen mir ganz ohne Probleme noch weitere, aktuellere Namen, in den Sinn: Erdogan, Putin, Lukaschenko, Bolsonaro, Duda... Also kein Suchen nach Beispielen nötig.

Gute Zusammenfassung, aber für mich zuviel könnte und vielleicht, also nichts neues...
1068
Melden
Zum Kommentar
avatar
Chancho
02.11.2021 14:58registriert Februar 2020
Erste Pläne dazu gibt es ja schon.
American Angst – Trumps zerstörerischer Plan\nEine verpasste Chance hat er diese Einladung für eine Fahrt durch Dallas nicht angenommen.
864
Melden
Zum Kommentar
avatar
IchfragefüreinenFreund
02.11.2021 14:14registriert Juli 2020
Zum Gewaltherrscher hat aber nicht wirklich viel gefehlt. Ich erinnere nur an Lafayette Square wo er dafür gesorgt hat, dass friedliche Demonstranten mit Trännengas und Gummi-Schrot vertrieben worden sind, damit das orange Männchen eine Bibel verkehrt herum vor einer Kirche präsentieren konnte. Auch bei den Protesten in Seattle haben vermummte Kräfte von Homeland Security Leute einfach so eingefangen und eingesperrt. Er wollte doch auch das Miltär einsetzten um Black Lives Matter zu unterdrücken. Nur ein paar vernünftige Personen in der Administration haben das Schlimmste verhindern können.
818
Melden
Zum Kommentar
47
Nato-Generalsekretär: «Wir sind nicht bereit für das, was auf uns zukommt»

Nato-Generalsekretär Mark Rutte warnt eindringlich vor künftigen Bedrohungen durch Russland und China und sieht nur deutlich höhere Verteidigungsausgaben als Lösung. «Wir sind nicht bereit für das, was in vier bis fünf Jahren auf uns zukommt», sagte der frühere niederländische Regierungschef in Brüssel.

Zur Story