Am kommenden Mittwoch wird Joe Biden seine erste Rede vor dem versammelten Kongress halten. Er wird dabei den Schwerpunkt auf seine Kernanliegen legen: den Kampf gegen das Coronavirus, den Kampf gegen die Klimaerwärmung, den Kampf gegen die zerbröselnde Infrastruktur und den Kampf gegen die Ungleichheit.
Biden kann erhobenen Hauptes ans Rednerpult treten. An all diesen Fronten kann er Ergebnisse vorweisen: Im Kampf gegen Covid hatte er versprochen, mindestens 100 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner in den ersten 100 Tagen zu impfen. Inzwischen sind es mehr als doppelt so viele. Mehr als die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ist bereits geimpft, der Rest kann es jederzeit tun. Zudem hat Biden sein 1,9-Billionen-Dollar-Corona-Hilfsprogramm erfolgreich durch den Kongress geboxt.
Zur Erneuerung der Infrastruktur hat die Regierung von Biden ein Programm vorgestellt, das mehr als zwei Billionen Dollar kosten wird und als das umfangreichste Erneuerungsprogramm seit den 50er-Jahren gilt.
In den kommenden Tagen wird sich noch der «American Families Plan» dazugesellen, die soziale Ergänzung des Infrastrukturprogramms. Dieser Plan beinhaltet längst fällige Verbesserungen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens. Auch hier richtet Biden mit der grossen Kelle an. Der Plan soll gegen zwei Billionen Dollar kosten.
Schliesslich hat die Biden-Regierung genaue Vorstellungen, wie sie diese Ausgaben finanzieren will: mit Steuererhöhungen bei denjenigen, die es sich leisten können. Trump hat die Unternehmenssteuer von 38 auf 21 Prozent gesenkt, Biden will sie wieder auf 28 Prozent anheben. Gleichzeitig will Biden eine Kapitalgewinnsteuer einführen, welche vor allem die Hedgefonds und die Wall Street zu spüren bekommen.
Der Mittelstand soll hingegen verschont bleiben. Niemand mit einem Jahreseinkommen von unter 400’000 Dollar müsse mit höheren Steuern rechnen, verspricht die Regierung hoch und heilig. Betroffen seien einzig 0,05 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, das Segment der Superreichen also.
All diese Anliegen sind bei der Bevölkerung populär. Es handelt sich dabei um sogenannte «kitchen table issues», Dinge, welche das Alltagsleben des Mittelstandes direkt betreffen und welche die Familie am Küchentisch diskutiert. Über das Wochenende veröffentlichte Umfragen zeigen denn auch breite Unterstützung zu diesen Programmen. Selbst republikanische Wähler stimmen Bidens Plänen mehrheitlich zu.
Biden selbst schneidet in diesen Umfragen ebenfalls gut ab. Zwischen 52 und 54 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner bescheinigen ihm, bisher einen guten Job abgeliefert zu haben. Zwar haben frühere Präsident wie Barack Obama oder Bill Clinton jeweils über 60 Prozent Zustimmung erhalten. In einer polarisierten Nation wie den USA sind solche Werte jedoch eine Illusion geworden. Zum Vergleich: Donald Trumps Zustimmungsrate lag zu diesem Zeitpunkt bei 42 Prozent – und kletterte kaum je höher.
Bidens Höhenflug ist umso erstaunlicher, als dass er der Wunschkandidat von niemandem war. Die Linken sahen in ihm einen langweiligen Pragmatiker der Mitte. Die Rechten verspotten ihn als Tattergreis mit Anzeichen von Alzheimer.
Bisher hat Biden seine Kritiker Lügen gestraft und eine Tatkraft an den Tag gelegt, die ihm keiner zugetraut hätte. Der Comedian Bill Maher hat ihn denn auch mit dem Attribut «the able one» (der Fähige) ausgezeichnet.
Die Konservativen versuchen derweil, Biden als Puppe der Progressiven zu diskreditieren. Sie bezeichnen seine Programme als «Wunschliste der Linken» und sehen ihn als Wegbereiter eines wie auch immer gearteten Sozialismus. Doch wer Biden als wild gewordenen Sozialisten darstellen will, macht sich im besten Fall lächerlich.
Geschickt macht Biden auch einen grossen Bogen um Kultur- und Identitätskriege. Er äussert sich weder über eine angebliche Cancel Culture noch zu vermeintlich rassistischen Kinderbüchern.
Dank seiner Erfahrung weiss Biden auch, dass er sich sputen muss. Deshalb wird er sich nicht durch falsche Versprechungen nach einer überparteilichen Lösung von seinem Weg abbringen lassen. Barack Obama ist seinerzeit auf diesen fiesen Trick der Republikaner hereingefallen und hat dafür einen hohen Preis bezahlt.
Wer zu spät kommt, der wird in den USA in den Zwischenwahlen abgestraft. Sowohl im Abgeordnetenhaus wie auch im Senat verfügen die Demokraten über eine hauchdünne Mehrheit. Die Gefahr, dass sie diese im Herbst 2022 verlieren, ist real, denn in Zwischenwahlen schneidet in der Regel die Partei des Präsidenten schlecht ab.
Was also könnte Biden aus dem Tritt bringen? Angesichts der Tatsache, dass nach wie vor regelmässig Schwarze von Polizisten erschossen werden, sind neue Unruhen und ein heisser Sommer denkbar geworden. Das würde der republikanischen Recht-und-Ordnung-Partei in die Karten spielen, ebenso die Situation an der Grenze. Gelingt es der Regierung nicht, die Immigration in den Griff zu bekommen, hat sie ein Mega-Problem.
Aussenpolitisch wird sich weisen müssen, was für Folgen der Abzug der Truppen aus Afghanistan haben wird. Zudem sind der Iran und Nordkorea jederzeit für eine Überraschung gut. Dazu kommt selbstverständlich die geopolitische Rivalität mit Russland und China.
Was wird andererseits Biden nützen? Ein sich abzeichnender Boom der Wirtschaft könnte seine Stellung auch bei der traditionellen Wählerschaft der Demokraten, der weissen Arbeiterklasse, wieder stärken und verlorene Stimmen zurückbringen. Bill Clintons Motto: «It’s the economy, stupid», hat seine Gültigkeit nicht eingebüsst.
Dazu kommt, dass die Grand Old Party sich in einem geradezu bedauernswerten Zustand befindet. Die Mehrheit der Republikaner glaubt nach wie vor an die Big Lie, die Lüge, wonach Trump eigentlich die Wahlen gewonnen hat. Im Bundesstaat Arizona haben sie deswegen die xte absurde Nachzählung organisiert.
Sollte Trump weiterhin Mitch McConnell, den Minderheitsführer im Senat, auf Übelste beschimpfen und ihm missliebige Kandidaten in den Vorwahlen bekämpfen, dann dürfte es für die Republikaner bei den Zwischenwahlen eng werden. Im Gegensatz dazu strahlt Biden Ruhe und Kompetenz aus.
«Der Mann, der sich am Mittwoch an die Nation wenden wird, weiss offensichtlich, was er mit seiner Präsidentschaft erreichen will», lobt E. J. Dionne in der «Washington Post». «Und er kann darauf zählen, dass sich seine politische Strategie und die Substanz seiner Politik gegenseitig verstärken.»
Der Satz:
Die Mehrheit der Republikaner glaubt nach wie vor an die Big Lie, die Lüge, wonach Trump eigentlich die Wahlen gewonnen hat.
Das kann ich eigentlich fast nicht glauben. Die Hälfte ! der Republikaner glaubt an Betrug? Nach aussen ja, aber die wissen doch alle, dass der Idiot selber nicht an dieses Märchen glaubt.
Auch als Trumpgegner sollte man, finde ich, sich um eine gewisse Objektivität bemühen. Denn wenn man das nicht tut, wittern die Befürworter nicht ganz zu unrecht eine mediale Parteilichtkeit. Und das schadet letztlich uns allen.