Inselsammler nennt sich Hanspeter Gsell. Als ich das zum ersten Mal hörte, stellte ich mir einen weit gereisten Mann mit einer Liste vor, auf der alle Inseln der Welt stehen. Und viele haben ein grünes Häkchen hinten dran.
Dem ist nicht so.
Zum einen, weil diese Liste wohl die längste der Welt wäre – alleine Schweden zählt angeblich 267'570 Inseln, knapp 1000 davon bewohnt. Zum anderen will Gsell auch nicht unbedingt eine nicht besuchte Insel nach der anderen betreten. Er und seine Frau reisen einfach gerne und versuchen, während der kalten Wintermonate der Schweiz zu entfliehen. Da er taucht und sie schnorchelt, waren Inseln oft ihr gemeinsames Ziel. Über die Jahre sind so über 100 Eilande zusammengekommen, von denen der Durchschnittsschweizer meist noch nie gehört hat. Oder wer kennt hier Amanu, Raivavae oder Ulithi?
Hanspeter Gsell, wie fing das mit dem «Inselsammeln» an?
Hanspeter Gsell: Ich wuchs mit Skifahren auf, aber eigentlich suchte ich immer die Wärme. Zudem ist das Tauchen meine grosse Liebe. Früher machte ich das in Schweizer Seen, doch nachdem ich das erste Mal in den Tropen tauchte, musste ich mir sagen: «Du warst ein ‹Lööli›, dass du das nicht schon vorher gemacht hast.» Die Unterwasserwelt ist faszinierend. Als Taucher gelangt man oft an die schönsten Orte und die Anbieter suchen immer noch etwas Exotischeres. So landeten wir bald auf unbekannten Inseln.
Okay, aber dieses Verlangen nach Inseln – gab es da einen Moment, der dies erweckte?
Ich war 16 oder 17 Jahre alt und mit Freunden unterwegs. Wir verkehrten oft in einer Beiz in Weinfelden. Dort kreuzte auch immer wieder Graf Jan Bernadotte, Graf von Wisborg von der Insel Mainau, auf. Ein weit gereister Mann mit tiefer Stimme, vielleicht 10 bis 15 Jahre älter als wir. Wir lauschten seinen Inselgeschichten und dachten: Das wollen wir auch – und nicht dieses Bünzli-Leben, das wir führen. Diese Erzählungen blieben bei mir haften.
Und dann haben Sie Ihr Leben umgestellt?
Nein, gar nicht. Ich lernte Drogist und führte meine ersten fast 30 Jahre ein ziemlich «normales Leben».
Wie fing das dann so richtig an?
Ich heiratete, wurde zweifacher Vater und meine Frau und ich merkten: Statt Skiferien zieht es uns im Winter an die Wärme. Die ersten Ziele wählten wir dann aufgrund von Tauchmöglichkeiten aus. Da landet man schnell auf einsamen Inseln.
Gibt es den einen Moment, in dem Sie wussten: Fremde Inseln – das ist mein Ding?
Ja, den gibt es. Ich kaufte später eine Weinfirma und wir dachten: Jetzt gibt es wohl noch einmal schöne Ferien als Angestellter und dann für einige Jahre nichts mehr. Wir entschieden uns für das Dampfschiff SS Thorfinn (Steam ship Thorfinn), das als «Liveaboard», ein schwimmendes Hotel für Taucher, rund um Chuuk in Mikronesien unterwegs ist. Wir verliebten uns völlig in das Schiff, die Menschen von Chuuk und die ganze Atmosphäre. Es war wie ein Land hinter den Regenbögen. Dort entfachte unsere Liebe für die Südsee.
Die Sie auf die entlegensten Flecken der Welt brachte ...
Wir kehrten jahrelang immer wieder auf das Schiff zurück. Chuuk ist bei Tauchern bekannt, weil es dort einen der grössten Wrackfriedhöfe der Welt gibt. Über die Jahre sammelten sich so die Inseln fast nebenbei und wir erreichten auch wirklich abgelegene Eilande, wo die Menschen in unserem Sinn nicht zivilisiert sind. Das war eindrücklich.
Wie muss man sich das vorstellen?
Auf den abgelegenen Inseln, wie beispielsweise Satawal, fühlt man sich teilweise in einer Parallelgesellschaft. Ich hatte da faszinierende Begegnungen mit Donner-, Regen-, Fisch- und Wellenmagier oder Palmblatt-Knoten-Wahrsager und Medizinmännern. Zudem existieren noch uralte Regeln. Die Inseln gehören zwar zu den Föderierten Staaten von Mikronesien, aber auf einigen Inseln sitzen noch immer «Chiefs» (Inselchefs), die darüber entscheiden, wer ihre Insel betreten darf und wer nicht. Man braucht eine Bewilligung.
Was macht der Wellenmagier?
Er stellt sich an den Strand und ruft diese magischen Worte in die Wellen: «Litingingi! Litingingi!Letanganga! Letanganga!Litingingi! Litingingi!Letanganga! Letanganga!» Was die Worte genau bedeuten, weiss er selbst auch nicht. Aber sie sollen die Wellen beruhigen und den Kanus ein sanftes Auslaufen ermöglichen. Zuschauer sind keine erwünscht während dieser Zeremonie.
Was war Ihr eindrücklichstes Erlebnis?
Das war auf einer sehr traditionellen Insel. Da mussten wir 100 Meter vor der Küste den Motor abstellen und alle Passagiere sich oben entblössen. Erst dann durften wir auf die Insel, weil oben ohne dort zur Tradition gehört.
Welche Insel war das?
Sie gehört zum Ulithi-Atoll in Mikronesien, aber mehr Details darf ich nicht verraten. Die Einwohner waren freundlich und man durfte auch Fotos knipsen. Aber sie wissen schon auch, dass es das Internet gibt und wollen ihre Gesichter online nicht sehen und den genauen Ort nicht preisgeben. Sie sind freundlich zu Fremden, wollen jedoch nicht überflutet werden von Touristen.
Wie sind Sie zur Bewilligung für diese Insel gekommen?
Wir kennen jemanden, der von der Insel stammt. Sie sagte uns, wir müssen uns als ihre Freunde zu erkennen geben. Oft erhält man neben der Bewilligung auch diskret noch eine Liste mit Dingen, die man als Geschenk mitbringen soll. Oft sind dies Tabak, Kaffee, Zucker und Bonbons.
Für wen sind diese Geschenke?
Für alle. Die Kultur des Teilens wird auf vielen der Inseln extrem gelebt. Zigarettenpäckchen werden beispielsweise geöffnet und die Zigaretten einzeln verteilt.
Spürten Sie auch schon Abneigung auf einer Insel?
Nein, das nicht. Wie gesagt, manchmal ist das alles etwas mühsam mit der Bewilligung. Aber vor Ort wurden wir immer sehr herzlich empfangen. Klar: Die Bewohner wissen auch, dass sie durch Touristen Geld verdienen können und erhalten Ankergeld. Aber es wirkte überall immer ehrlich.
Wie gut kennen diese Inselbewohner «unser Leben»?
Die wissen schon, wie das bei uns läuft. Einige haben auch mal in Neuseeland oder den USA studiert oder dort gearbeitet. Die kehren teilweise zurück, weil sie sich nicht wohl fühlen oder weil ihnen Geld weniger bedeutet als uns.
Was war das Aussergewöhnlichste, das sie auf einer der besuchten Inseln erlebt haben?
Wenn man länger auf den Pitcairn-Inseln bleiben möchte, nimmt man den Blinddarm raus. Denn wenn der sich entzündet, dann kann man das nicht in nützlicher Zeit behandeln. Auch Einheimische, die mal nach Neuseeland gehen, wissen: Vor der Heimkehr noch irgendwo den Blinddarm raus operieren lassen.
Wie würden Sie solche Insulaner, die irgendwo in den Weiten des Pazifiks leben, beschreiben?
Eigentlich sind sie nicht viel anders als Bergler. Auf der Insel sehe ich zwar in alle Richtungen, aber da hat es nichts ausser Meer. Irgendwo auf einer Alp sind es statt dem Meer die Berge. Man muss an beiden Orten mit der Natur leben. Die Gemeinschaft ist viel wichtiger. Wir waren auf abgelegenen Inseln mit 40 Einwohnern: Da kannst du kein Eigenbrötler sein.
Was ist die grösste Schwierigkeit auf abgelegenen Inseln?
Da muss man immer die Sichtweise betrachten. Was für uns schlecht ist, muss für die Bewohner nicht so sein. Man ist allgemein der Natur mehr ausgesetzt, muss beispielsweise mit Stürmen umgehen können. Negativ für alle ist bei abgeschiedenen Orten sicher die medizinische Versorgung. Wir haben Menschen getroffen, deren Baby wegen Durchfall starb. Das fährt einem schon ein.
Die Diskussion, ob man ursprüngliche Gebiete der Welt besuchen soll oder nicht, spaltet die Gemüter. Wie sehen Sie das?
Wir besuchten einmal eine Insel im Tuamotu-Archipel (Französisch-Polynesien). Da leben 80 Personen. Das Schiff legt zweimal pro Jahr an. 200 Touristen waren an Bord. Stellen Sie sich das vor: Da sind für ein paar Stunden plötzlich zweieinhalbmal so viele Menschen dort. Ich stelle mir immer vor, wie das wäre, wenn in unseren Wohnort – ein Dorf im Kanton-Baselland mit rund 6'500 Einwohnern – an einem Tag 16'000 Touristen strömen würden. Wie würden wir da reagieren? Auf der genannten Insel wurden wir sehr herzlich empfangen.
Wie fühlten Sie sich dabei?
Weil die Bewohner so freundlich waren, gut. Ich finde es okay, wenn Menschen reisen können. Das geniesse ich ja auch und man lernt immer dazu. Aber wenn man einfach nur noch Touristen heranschaufelt, dann hört es für mich auf. Wir erlebten chinesische Touristengruppen, von denen einige nicht schwimmen konnten. Aber die waren auf einem Vier-Tagestrip auf Inseln in Indonesien und lernten dabei noch zu tauchen ...
Womit wir bei der enttäuschendsten Insel wären. Welche ist das für Sie?
Mabul, eine Insel vor Borneo. Die liegt ganz in der Nähe von Sipadan, was wohl vielen Tauchern etwas sagt. Als Taucher war das mein schlimmstes Erlebnis. Wir waren unterwegs und dann sah ich das erste Mal in meinem Leben den Müllstrudelteppich treiben. An den Gestank werde ich mich immer erinnern. Das Gebiet dort ist geschützt, aber diese Müllsammlungen werden einfach von irgendwoher angeschwemmt.
Haben Sie so etwas sonst noch irgendwo erlebt?
Auch die unbewohnte Henderson Island (Pitcairn) war mal in den Schlagzeilen. Da lebt in 1000 Kilometern Umkreis praktisch niemand, aber der Strand ist übersät mit Abfall von Menschen, die weit weg wohnen und deren Müll dort angeschwemmt wird. Ich versuche, so vielen Leuten wie möglich von den Inseln zu erzählen, schrieb schon Kolumnen und habe mehrere Bücher veröffentlicht.
Umweltschutz ist bei so vielen Reisen sicher auch ein Thema.
Ich reise an verrückte Orte, meine CO2-Bilanz ist sicher nicht die beste. Das Reisen ist für uns auch eine Horizonterweiterung. Erst das Fremde lehrt dich, was du an der Heimat hast. Es schärft das Bewusstsein, dass es auch an ganz anderen Ecken der Welt Folgen hat, Abfall zu trennen oder Esswaren wegzuwerfen. Solche Erlebnisse wie auf Mabul bedrücken extrem und öffnen einem die Augen, dass wir unsere Welt schützen müssen.
War Auswandern nie ein Thema bei Ihnen?
Doch, das war es. Vor mittlerweile 40 Jahren hätten wir es fast gewagt. Wir fanden auf der Insel Bequia (Saint Vincent und die Grenadinen) in der Karibik ein tolles, kleines Hotel. Die deutsche Besitzerin wollte verkaufen. Der Preis war hoch, aber wir hätten das Geld wohl zusammengebracht. Wir liessen uns von verschiedenen Seiten beraten und es wurde uns gesagt: Das Hotel steht so nahe am Ufer, das geht bald unter. Also brachen wir das Projekt ab. Das Hotel gibt es heute noch.
Welche Inseln können Sie eigentlich in Europa empfehlen?
Die Isola San Giulio im Ortasee, keine zwei Stunden von Bellinzona, ist wunderschön. Die italienischen Inseln gefallen uns allgemein gut. Pantelleria, zwischen Sizilien und Tunesien, war beispielsweise ein Highlight. Aber auch die autofreie Nordseeinsel Borkum ist sehr herzig. Man muss nicht an das Ende der Welt für schöne Inseln.
Was sind Tipps, die Sie Leuten geben können, welche abgeschiedene Paradiese entdecken wollen?
Man braucht Geduld und Gelassenheit. In diesen Weltgegenden ticken die Uhren anders als bei uns. Und was ich Leuten auch immer sage: Wenn du den Traum hast, mal so etwas zu erleben, dann versuche, ihn dir zu erfüllen. Es ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich.
Das ist eindeutig der Songtext von Crazy Frog :D