Via Botschaft in Manila (Philippinen, zuständig für Mikronesien) wollen wir den Kontakt zum einzigen Schweizer auf Mikronesien herstellen. Der Botschafter fragt ihn an, ob er sich bei uns zum Interview melden möchte. Rund zwei Wochen später trudelt eine E-Mail ein: «Nun, hier bin ich. Habe schon letzte Woche geschrieben, aber etwas ist schief gelaufen», tippt Fredy Gull irgendwo inmitten des Pazifiks in die Tasten.
Telefonieren via Skype oder WhatsApp sei nicht so einfach. Er besitze nur «Coconut wireless». Wir einigen uns auf schriftliche Konversation. In den folgenden Wochen schreiben wir uns mehrmals hin und her, woraus dann nachfolgendes Interview entstand.
Gull lebt im Bundesstaat Yap, der aus 145 Inselchen besteht und von rund 11'000 Menschen bewohnt wird. Er ist – wie Reto Scherraus-Fenkart auf São Tomé und Príncipe – der einzige registrierte Auslandschweizer dort.
Die Klimatabelle von Google sieht für das Fleckchen Erde in zehn von zwölf Monaten eine Temperatur von maximal 30 Grad und minimal 24 Grad Celsius vor. Zudem seien es im Mai 31/25 Grad Celsius, im Juni 31/24 Grad Celsius. Im vorletzten Mail schreibe ich Fredy Gull, dass es in Zürich geschneit habe. Er antwortet sonnenverwöhnt: «Danke für die Mail, den Schnee kannst du behalten.»
Wie bist du ausgerechnet in Mikronesien gelandet?
Fredy Gull: Ich habe immer exotische Plätze für einen Job gesucht. Als Koch stand mir die ganze Welt offen. Es sollte möglichst abgelegen, fern von Grossstädten und Stress sein.
Und dann fandest du im Internet ein Inserat von Mikronesien?
Nein, damals gab es noch kein Internet. Das war irgendwann in den frühen 1980ern. Ich bewarb mich für einen Job auf Palau. Das ist – sehr grob gesagt – die Nachbarinsel. Mit einem kleinen Flugzeug erreicht man Yap von dort in rund 90 Minuten.
Yap ist die Insel, auf der du heute lebst?
Genau. Mikronesien besteht aus vier Inselstaaten, zu welchen wiederum viele kleinere Inseln gehören. Alle haben ihre eigene Sprache und Regierung und bilden zusammen die Föderierten Staaten von Mikronesien (FSM). Der Hauptsitz der FSM ist Ponapei, eine Insel rund 1700 Kilometer von Yap entfernt und damit deutlich weiter weg als Palau (Anm. d. Red: 1700km entspricht ca. Zürich - Istanbul)
Wie gross ist dieses Eiland?
Zirka 18 Kilometer lang und maximal drei Kilometer breit. (Anm. d. Red: Das entspricht ca. der Fläche von Manhattan).
Vermisst du die Weite nicht? Oder die Berge der Schweiz?
Nein, ich geniesse hier die Wärme.
Bevor wir mehr von Yap erfahren, zurück zu den Anfängen: Hast du den Job auf Palau damals erhalten?
Ja, das klappte.
War es dein erster Auslandeinsatz? Wie ging es danach weiter?
Nein, ich hatte da schon einige andere Jobs im Ausland. Ich bin gelernter Koch, verliess die Schweiz mit 19 und ging nach Norwegen. Dort arbeitete ich auf einem Schiff der Reederei Norske Amerika Linje (NAL). Im Sommer fuhren wir auf dem Transatlantik, im Winter arbeitete ich bei Kreuzfahrten.
Wie ging es danach weiter mit deinen Auslandsstellen?
Nach Norwegen arbeitete ich auf St. Maarten in der Karibik, zog weiter nach Bali, Indonesien, die Philippinen und zurück in die Karibik. Dieses Mal landete ich auf Curaçao. Es zog mich zurück nach Asien nach Kota Kinabalu auf Borneo (Malaysia), weiter nach Fidschi und dann kam die Stelle auf Palau.
Und von dort dann nach Yap?
Nein, da nahm ich die Insel aufgrund der «Nachbarschaft» zu Palau einfach so richtig wahr. Ich zog aber erst via Neuseeland nach Kalifornien, wo ich das Tauchlehrer-Brevet absolvierte. In diesem Job ging es dann nochmals um die halbe Welt: Tauchlehrer in Akumal (Mexiko), Fidschi, Belize, Seychellen und dann Yap.
Wow, das hört sich an wie eine Liste von Traumdestinationen. Wo war es am schönsten?
Das ist immer schwierig zu sagen. Je mehr man sieht und erlebt, desto mehr will man noch sehen. Aber Fidschi, die Seychellen und Yap sind meine Favoriten.
Du warst viel unterwegs. Was bringt das Reisen?
Es erweitert den Horizont. Man ist nicht bünzlig, man akzeptiert andere Länder und andere Sitten.
Wann bist du definitiv nach Yap gezogen?
1994 war ich das erste Mal dort als Tauchlehrer. 2001 verliess ich die Schweiz definitiv. Der Umzug war einfach: Koffer packen und abfliegen. Seither war ich nie mehr zurück. Ich wuchs in Zürich auf, aber mittlerweile habe ich nichts mehr in meiner alten Heimat.
Du warst nie mehr zurück in der Schweiz? Hattest du nie eine Phase, in der du zurückkommen wolltest?
Nachdem ich mit 19 die Schweiz Mitte der 1960er Jahre erstmals für längere Zeit verliess, war ich noch zwischen 1998 und 2001 zurück in der Schweiz. Aber ich vermisste die Wärme, die Ruhe und das Tauchen. Und natürlich meine Freunde, die Mantas. Seit 2001 war ich nie mehr zurück.
Weshalb wolltest du die Schweiz überhaupt verlassen?
Ich versuchte bis 2001, in der Schweiz zu leben. Aber ich kam irgendwie nicht zurecht.
Warum?
Die Sehnsucht zog mich weg, das Wetter hier passte nicht, die grossartigen Erlebnisse, welche ich auf Reisen hatte. Das Denken in der Schweiz ist mir oft zu engstirnig, ich wollte dieses «Hamsterrad» hier nicht mitmachen. Auf Yap braucht man keine Steuererklärung auszufüllen und das Vermögen wird nicht versteuert. Es ist alles einfacher.
Fühlst du dich auf der Insel zuhause?
Auf jeden Fall. Yap ist meine Wahlheimat geworden.
Und was arbeitest du auf der Insel?
Zu Beginn leitete ich die Tauchbasis für das Manta Ray Bay Resort. Da war ich acht Jahre lang tätig. Seit 2006 braue ich Bier für das Hotel in der Stone Money Brewing Company, einer Mikrobrauerei. Sie nennen mich hier «Brewmeister».
Wie ist es dazu gekommen?
Ich wurde angelernt, habe keinen Abschluss als Braumeister. Aber als Koch hat man gute Voraussetzungen für das Brauen. Genauigkeit und Sauberkeit sind ein Muss.
Habt ihr das Bier «eingeführt» auf Yap?
Yap hatte schon davor einen riesigen Bierkonsum. Bill Acker, der Eigentümer des Manta Ray Bay Resorts, spielte deshalb schon lange mit dem Gedanken herum, selbst welches zu brauen. Bis es dann eines Tages soweit war.
Was für Biere braust du da?
Wir brauen zwei Biere, ein helles und ein dunkles. Ich kann es nicht mit einem Schweizer Bier vergleichen. Das helle ist «gsüffig», das dunkle wie ein Düsseldorfer Alt, so behaupten es zumindest die Deutschen, welche das Bier mögen. Und das will etwas heissen.
Wo ist das Bier erhältlich?
Nur im Hotel bei uns auf der Insel. Ich produziere etwas über 250 Liter pro Woche, hätte aber die Kapazität, dies zu verdoppeln.
Bist du der einzige Bierbrauer in Mikronesien?
Auf Yap sind wir die einzigen. In Palau wird auch Bier gebraut. Aber böse Zungen behaupten, unseres sei besser.
Wie sieht ein typischer Tag von dir aus?
Ich fahre jeden Morgen um 6.30 Uhr zur Arbeit. Das dauert fünf Minuten, meistens bin ich zu der Zeit der einzige, der mit einem Auto unterwegs ist. Wenn ich Bier braue, bin ich bis 14 Uhr auf der Anlage, ansonsten mache ich um 12 Uhr Feierabend. Die meiste Zeit brauche ich, um in der Brauerei sauber zu machen. All die Fässer reinigen und so weiter. Am Nachmittag schaue ich kurz CNN, damit ich weiss, was Trump wieder alles angestellt hat.
Ist CNN dein einziger «Kontakt» mit der Welt da draussen oder informierst du dich auch über das Geschehen in der Schweiz?
CNN ist nicht der einzige Kontakt zur Aussenwelt. Aber es ist im Moment die beste Seifenoper, seit Trump am Ruder ist. Sonst interessiere ich mich nicht für Politik. Es gibt ja noch das Internet, Google und watson.ch für Nachrichten.
Wusstest du, dass du der einzige Schweizer in Mikronesien bist?
Ja, das wusste ich. 2012 machte das Westschweizer Magazin «L’Illustré» ein Interview mit mir aus dem gleichen Grund. Anscheinend ist dies noch immer so.
Fühlt es sich irgendwie speziell an, der einzige Schweizer zu sein?
Nein. Ich sehe öfters Schweizer hier Tauchurlaub machen. In wenigen Tagen reisen wieder zwei an, die schon einige Male hier waren und aktuell ist eine Genferin zu Gast. Sie taucht aber nicht.
Gibt’s viele Touristen auf Yap?
Die Zahl der Touristen ging rauf und runter. In den Wintermonaten hat es grundsätzlich mehr. Vor 1990 war nicht viel mit Tourismus. Es gab nur kleine Hotels ohne Tauchmöglichkeiten. Das Manta Ray Bay Resort hat Yap dann als Tauchstation auf die Weltkarte gebracht.
Was muss man gesehen oder gemacht haben, wenn man nach Yap reist?
Die Insel ist berühmt für die Mantas. Für Taucher ist es hier ein Paradies. Wer lieber über dem Wasser etwas erlebt, der kann hier in die Kultur und Traditionen der Inselbewohner eintauchen. Es gibt beispielsweise noch Navigateure, die ohne Kompass oder anderen Instrumenten in einem Auslegerkanu durch die Inselwelt segeln.
Auf Yap werden noch Jahrhunderte alte Traditionen bewahrt. Welche macht dir am meisten Eindruck?
Das Steingeld ist wohl eine der eindrücklichsten Traditionen, die erhalten geblieben ist. Den Wert kann man nicht in Franken und Rappen umwälzen, es kommt auch darauf an, wie viele Transaktionen damit getätigt wurden und von welcher Art diese sind. Die Grösse der Steine spielt keine Rolle. Das Geld – oder «Rai» – wird nicht übergeben, der Stein bleibt immer, wo er ist und der Besitzer trägt darauf die Transaktionen ein.
Dann sind auch die Tänze eindrücklich, welche von Generation zu Generation übertragen werden. In solchen Tanzgruppen ist von der Grossmutter über die Mutter bis zur Enkelin alles dabei. Es ist «putzig», den Kleinsten zuzuschauen, die mit grossem Eifer dabei sind, Fehler machen, lachen und dann wieder von den Älteren abschauen, wie es eigentlich gehen sollte. Einfach köstlich.
Wann ist denn die beste Reisezeit für Mikronesien?
Normalerweise von November bis Mai, dann herrscht Trockenzeit. Aber eben: Das Wetter spielt ja überall verrückt. Darum muss man diese Angaben mit Vorsicht geniessen.
Gibt es schon direkte Folgen des Klimawandels für Mikronesien oder Yap im Speziellen?
Den Klimawandel sieht man jetzt schon in Form von Taifuns, die das Riff zerstören.
Wie gehen die Einwohner damit um?
Auf Yap stehen aktuell drei Windräder zur Stromgewinnung, unser Hotel hat Solar Panels. Das Bewusstsein ist da und man versucht auch grüne Energie zu nutzen.
Die Emigrationsrate von Mikronesien ist hoch. Wohin ziehen die Menschen und warum?
Die meisten versuchen ihr Glück in den USA und hoffen auf eine gute Ausbildung oder besser bezahlte Jobs. Der Mindeststundenlohn auf Yap beträgt nur 1.75 US-Dollar. Da liegt es auf der Hand, dass einige ihr Glück anderswo versuchen.
Du hast uns von deinem Leben erzählt. Wie lebt die einheimische Bevölkerung?
Viele der Eingeborenen leben einfach vom Meer und vom Land, das sie besitzen. Andere gehen zur Arbeit wie überall sonst auch. Beamte beim Staat, Banker, in Hotels. Man kann nicht sagen, dass die Leute arm sind. Sie leben einfach.
Was sind die Ähnlichkeiten zwischen der Schweiz und Mikronesien?
Ich finde, man kann die beiden Länder nicht miteinander vergleichen. Die Schweiz ist ein Binnenland, Mikronesien besteht aus Inseln.
Dann frage ich anders: Was können die Schweizer von Mikronesiern lernen?
Da gibt es Verschiedenes. Ich bleibe mal bei einfachen Dingen: Wie öffnet man eine Kokosnuss oder wie klettert man auf eine Betelnusspalme.
Was vermisst du am meisten aus der Schweiz?
Eigentlich nichts. Mein letztes Fondue ass ich wohl vor rund 25 Jahren. Rösti mache ich mir ab und zu selbst. Ich war ja früher Koch. Gerne hätte ich mal wieder eine richtig gute Wurst.
Gibt es Schweizer Traditionen oder etwas typisch schweizerisches, das du bewahrt hast?
Ich besitze nichts typisch Schweizerisches. Aber ich habe ein Jassprogramm auf meinem Computer und klopfe täglich einen Jass.
Du hast zu Beginn erwähnt, dass du weg vom «Stress» wolltest. Hat sich der Wunsch von stressfreiem Leben erfüllt?
Ja, das kann ich auf jeden Fall so bestätigen. Yap ist, wo ich sein will. Hier werde ich eines Tages sterben.