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In Frankreich rufen sie wieder «zu den Waffen» – das steckt dahinter

FILE - Piles of uncollected garbage is set on fire by protesters after a demonstration near Concorde square, in Paris, March 16, 2023. (AP Photo/Lewis Joly, File)
Aufgrund des Streiks der Müllmänner türmen sich in Frankreich die Abfallsäcke in die Höhe. Im Zuge der Proteste werden sie vielerorts angezündet.Bild: keystone

In Frankreich rufen sie wieder «zu den Waffen» – das steckt dahinter

Schon seit Wochen sorgt die geplante Rentenreform in Frankreich für Unruhen. Mit dem missglückten Sturz der Regierung am Montagabend erreicht die Wut im Volk einen neuen Höhepunkt. Eine Übersicht.
21.03.2023, 11:5821.03.2023, 14:50
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Die Proteste

Als am Montag um 18.49 Uhr feststand, dass der Sturz der Regierung gescheitert war, strömte die französische Bevölkerung zu Tausenden auf die Strasse. Mit den gescheiterten Misstrauensabstimmungen starb für sie die vorerst letzte Hoffnung auf ein Abwenden der umstrittenen Rentenreform.

Die Neuigkeit sorgte landesweit für Tumulte, in deren Folge 142 Menschen festgenommen wurden. Elf Polizisten seien verletzt worden, berichtete der Sender BFMTV unter Berufung auf Polizeiquellen. Auch in anderen Städten wie Saint-Étienne, Strassburg, Amiens, Caen und Toulouse kam es laut Franceinfo zu spontanen Demonstrationen.

Allein in Paris seien rund 2000 Polizisten im Einsatz gewesen, berichtete BFMTV. Einige Demonstranten hätten unter anderem Mülltonnen angezündet und Plakate mit Aufschriften wie «Auch wir werden es durchziehen», «Zu den Waffen» oder «Macron Rücktritt» getragen. Politikerinnen und Politiker von rechts wie links forderten bereits den Rücktritt von Premierministerin Elisabeth Borne.

Die gescheiterten Misstrauensvoten

In einem letzten Aufbäumen gegen die Reform versuchten die französischen Oppositionskräfte noch am Montag, die Regierung mit zwei Misstrauensvoten zu Fall zu bringen. Ihr Vorhaben war nicht von Erfolg gekrönt, scheiterte aber nur knapp: In der ersten der zwei Abstimmungen entzogen 278 Abgeordnete der Mitte-Regierung das Vertrauen.

Damit hätten nur 9 Stimmen für das absolute Mehr von 287 Stimmen gefehlt. Beim zweitem Misstrauensvotum, welches von den Rechtsnationalen eingebracht wurde, war das Resultat hingegen deutlicher: Dort stimmten bloss 94 Abgeordnete für einen Abtritt der Regierung.

Far-left lawmakers react as they hold papers reading: �64 years. It is no�, at the National Assembly in Paris at the National Assembly in Paris, Monday, March 20, 2023. France's government is fig ...
Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum hält die linke Opposition Papiere hoch, mit denen sie gegen die Reform protestiert.Bild: keystone
Die Rentenreform
Derzeit liegt das Renteneintrittsalter in Frankreich bei 62 Jahren. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der nötigen Einzahljahre für eine volle Rente schneller steigen soll. Das Renteneintrittsalter wird mit der Reform auf 64 Jahre angehoben. Die monatliche Mindestrente will die Regierung auf etwa 1200 Euro hochsetzen. Ziel der Reform ist es, eine drohende Lücke in der Rentenkasse zu schliessen.

Der umstrittene Sonderartikel

Den zwei Misstrauensanträgen ging ein von Reform-Gegnern als «undemokratisch» kritisiertes Vorgehen voraus. Nach Wochen hitziger Debatten und Streiks steuerte die Reform letzte Woche auf die Zielgerade zu. So sollten die beiden Parlamentskammern am Donnerstag final über die Reform abstimmen. Während der Senat das Vorhaben billigte, galt die Zustimmung in der Nationalversammlung bis zuletzt als unsicher. Seit dem Juni letzten Jahres besitzt die Regierung dort keine absolute Mehrheit mehr.

Um die drohende Niederlage in der Nationalkammer abzuwenden, beschloss die Regierung deshalb, die Reform mit einem Sonderartikel der Verfassung ohne Abstimmung durch das Parlament zu drücken. In Haushaltsfragen – wie der Rentenreform – darf die Regierung auf den Sonderartikel zurückgreifen, um Blockaden zu verhindern. Während die Zustimmung im Senat nach wie vor nötig ist, darf ein Vorhaben damit ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung gebracht werden. Insgesamt darf die Regierung dieses Mittel einmal pro Parlamentsjahr nutzen.

Der Opposition stiess dies dennoch sauer auf, weshalb sie die zwei Misstrauensanträge einreichte. So klagte etwa der liberale Abgeordnete Charles de Courson vor der Abstimmung:

«Die Regierung hat alle Mittel genutzt, um das Parlament zu umgehen.»

Das Vorgehen hatte die eh schon wütenden Proste in Frankreich noch weiter angeheizt.

Das Programm der nächsten Tage

Präsident Emmanuel Macron will sich an diesem Dienstag mit Premierministerin Elisabeth Borne und den Mehrheitsführern der Fraktionen treffen, wie der Élysée-Palast am Montagabend mitteilte.

French Prime Minister Elisabeth Borne speaks to the lawmakers at the National Assembly in Paris, Monday, March 20, 2023. France's government is fighting for its survival Monday against no-confide ...
Premierministerin Elisabeth Borne am 20. März in der Nationalversammlung. Bild: keystone

Borne verteidigt trotz der Rücktrittsforderungen weiterhin das Vorgehen der Regierung:

«Wir stehen am Ende des demokratischen Prozesses dieser für unser Land wichtigen Reform. Ich habe meine Verantwortung und die meiner Regierung mit Demut und Ernsthaftigkeit übernommen.»

Macron, der sich in der ganzen Diskussion bisher eher im Hintergrund gehalten hat, soll sich gemäss France Info Radio am Mittwoch an die Bevölkerung wenden. Um 13 Uhr werde er Journalisten live Rede und Antwort stehen, kündigte sein Büro an.

Erwartet wird, dass Linke und Rechtsnationale im Streit um die Reform am Dienstag den Verfassungsrat anrufen werden. Dieser muss den Gesetzesentwurf zur Rentenreform genehmigen und über die Verfassungsmässigkeit des Gesetzes entscheiden. Die Opposition will nun dort das Vorgehen der Regierung überprüfen lassen, die durch ein beschleunigtes Verfahren die Debattenzeit für die Reform im Parlament verkürzte und die Reform in einem Haushaltstext unterbrachte. Ausserdem wollen die Linken versuchen, die Reform mit einem Referendum zu verhindern. Schon für Donnerstag sind zudem weitere Streiks und Proteste gegen die Reform geplant.

Die Gewerkschaften riefen am Montagabend dazu auf, die Mobilisierung zu verstärken – und zwar so lange, bis die Reform zurückgenommen werde. In einem Aufruf der Gewerkschaft CGT hiess es:

«Nichts wird die Entschlossenheit der Arbeiter schwächen.»

(mit Material der sda/dpa)

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81 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tubel vom Dienst
21.03.2023 14:59registriert Januar 2021
Bei der ganzen Rentendiskussion in Frankreich, aber auch bei uns, wird immer so getan, dass nicht genug Geld da sei um die Renten zu bezahlen. Das ist einfach nur Falsch. Es ist genug Geld da, die Franzosen und wir, getrauen uns einfach nicht es zu holen wo es ist. Bei den oberen 10'000.
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der/die Waldpropaganda
21.03.2023 12:21registriert September 2018
Ich verstehe die Franzosen nicht, wenn die sowieso länger Arbeiten müssen da oft nicht genug eingezahlt ist, dann ist eine Rentenerhöhung doch kein Problem? Die französische Bevölkerung zerstört mit ihrem Reformunwillen sowieso schon seit geraumer Zeit die eigene Wirtschaft, gut wird hier mal durchgegriffen.
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Steibocktschingg
21.03.2023 12:37registriert Januar 2018
Was genau ist an einer Erhöhung des Rentenalters so schlimm, dass man Krawalle veranstalten muss? Unzufrieden sein, ok, aber so austicken? Ich verstehe das nicht.
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