Die Bilder, welche die Welt derzeit aus dem Gaza-Streifen erreichen, haben eine neue Dimension des Grauens erreicht. Abgemagerte, verhungernde Menschen. Mütter, die aufgrund von Mangelernährung ihre Neugeborenen nicht stillen können. Ausgehungerte und dehydrierte Menschen, die beim Anstehen für Hilfsgüter kollabieren. Mitarbeitende von Hilfswerken, die ebenfalls nichts zu essen haben und vor Erschöpfung ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können.
Nicht selten kommt es vor, dass Palästinenserinnen und Palästinenser mehrere Kilometer zu Verteilzentren laufen, dort dann aber beschossen werden. Viele Menschen essen höchstens einmal am Tag, die Preise für Lebensmittel steigen in horrende Höhen, ein Kilo Mehl kostet auch mal 60 Dollar.
In den vergangenen Tagen sind Dutzende Personen verhungert, so schlimm wie jetzt sei die Lage noch nie gewesen, berichten zahlreiche Hilfsorganisationen. Dabei stünden tonnenweise Hilfsgüter bereit, Israel lässt jedoch viel zu wenige Lastwagen in den Gaza-Streifen rein. Die israelische Regierung gibt die Schuld gemäss SRF wiederum den Hilfswerken, die angeblich unfähig seien, die Nahrungsmittel zu verteilen. Zudem behauptet sie, die Hamas würde Hilfsgüter stehlen und horten.
Nahost-Expertin Bente Scheller schätzt für watson die aktuelle Lage im Gaza-Streifen ein.
Israel lässt die Menschen im Gaza-Streifen regelrecht verhungern, indem es die Hilfslieferungen blockiert. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie diese Bilder sehen?
Bente Scheller: Ich finde es wirklich apokalyptisch, was man auf diesen Bildern sieht. Diese hungernden, komplett entkräfteten Menschen, die auch psychisch enorm leiden, die Zerstörung im Gaza-Streifen, das ist schrecklich.
Wie hat es so weit kommen können?
Ich bin der Meinung, dass sich Gaza in dieser fatalen Situation befindet, weil wir dem Völkerrecht nicht genügend Nachdruck verliehen haben. Dass die Regierung Israels die Bevölkerung im Gaza-Streifen mit politischer Intention gezielt aushungert, lässt mich schon sehr daran zweifeln, was mit dem Völkerrecht geschehen ist. Es ist als Lehre aus den beiden Weltkriegen geschaffen worden und soll Zivilistinnen und Zivilisten schützen. Aber es funktioniert weltweit immer weniger.
Ist das Völkerrecht noch ernst zu nehmen, wenn es nicht dafür sorgen kann, dass im Gaza-Streifen keine Neugeborenen verhungern?
Der Gaza-Streifen ist leider nicht der einzige Ort, an dem gegen das Völkerrecht verstossen wird. Das Völkerrecht ist nicht so konzipiert, dass es immer durchgesetzt wird. Das heisst aber nicht, dass es überflüssig geworden ist. Im Gegenteil: Wir sollten alles dafür tun, ihm wieder Geltung zu verleihen. Wir müssen uns für das Völkerrecht einsetzen, damit wir unseren moralischen Kompass nicht verlieren.
Welche Mechanismen müssten greifen, damit das Völkerrecht seiner Aufgabe wieder gerecht werden kann?
Eigentlich wäre die UNO diejenige Instanz, die Konflikte friedlich löst, um Krieg und Leid für die Zivilbevölkerung zu verhindern. Die UNO ist aber nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie machen. Für viele der beteiligten Staaten ist das Völkerrecht nur von untergeordneter Relevanz. Nebst der UNO gibt es aber auch andere internationale Player, die EU oder die Arabische Liga, die auch Diplomatie und Druck anwenden könnten. Sämtliche diplomatischen Bemühungen haben bislang wenig gebracht, jetzt müssen andere Massnahmen ergriffen werden.
Die wären?
Die EU könnte Sanktionen gegen einzelne israelische Regierungsmitglieder verhängen. Sie könnte ihr Assoziierungsabkommen mit Israel überprüfen, es beinhaltet eine Menschenrechtsklausel. Die EU muss zudem aufhören, Waffen nach Israel zu liefern, die für diese Völkerrechtsverbrechen eingesetzt werden.
Ausserhalb des Gaza-Streifens stehen weit über 100'000 Tonnen Hilfsgüter bereit. Israels Regierung begründet die Blockade auch damit, dass diese Hilfsgüter von der Hamas entwendet werden könnten. Eine berechtigte Begründung?
Nein. Es mag bitter sein, wenn Konfliktparteien von Hilfsgütern profitieren, aber so ist die humanitäre Hilfe angelegt.
Können Sie das ausführen?
Israel kann nicht damit argumentieren, dass möglicherweise Hilfsgüter in die Hände von Hamas-Mitgliedern geraten, und deswegen die Leute verhungern lassen. Humanitäre Hilfe ist Hilfe für die Zivilbevölkerung, egal auf welcher Seite des Konflikts. Deswegen muss sie ja auch neutral und unabhängig geliefert werden. Zumal es im Falle des aktuellen Konflikts keine Belege dafür gibt, dass die Hamas ihr Überleben durch Hilfsgüter der UNO sichert. Was man vielmehr sieht: Israel setzt das Blockieren von Hilfslieferungen als Kriegswaffe ein. Mehrere Mitglieder der israelischen Regierung betonten, dass sie die Menschen hungern lassen würden, bis die Hamas vernichtet sei.
Es gab auch Berichte, wonach die Hamas der eigenen Bevölkerung verboten haben soll, Hilfsgüter zu beziehen. In diesem Fall wäre die Hamas auch nicht ganz unschuldig an der gegenwärtigen Situation.
Die Hamas trägt in vielerlei Hinsicht eine Mitschuld an der schrecklichen Situation, angefangen mit den traumatischen Massakern am 7. Oktober 2023, die diesen Krieg erst losgetreten haben. Auch glaube ich, dass es erwiesen ist, dass die Hamas nicht die Bevölkerung Gazas als wichtigste Gruppe sieht, sondern primär auf ihr eigenes Überleben schielt. Aber dass die Hamas der palästinensischen Bevölkerung verbietet, Hilfsgüter anzunehmen, ist so nicht belegt.
Diese Woche hat die britische Regierung einen Aufruf veröffentlicht, den 30 Staaten, darunter die Schweiz, unterschrieben haben. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der israelischen Geiseln und die Freigabe der Hilfsgüter. Hat dieses Schreiben eine Wirkung?
Ein dauerhafter Waffenstillstand muss das oberste Ziel sein. Die Hamas ist so weit zerschlagen, im Gaza-Streifen ist kein klares Kriegsziel mehr da, das Israel erreichen könnte. Die zu Beginn dieses Jahres von US-Präsident Donald Trump verhandelte Waffenruhe hat auch die Freilassung aller noch lebenden Geiseln beinhaltet, allerdings hat Israel das Abkommen einseitig aufgekündigt. Viele rote Linien – die Vertreibung der Bevölkerung, die Verkleinerung und dauerhafte Besetzung des Gaza-Streifens – hat Israel überschritten. Umso wichtiger ist es nun, dass unter diesen 30 Staaten Konsens herrscht.
Deutschland hat den Aufruf nicht unterzeichnet.
Das stösst, insbesondere im Nahen Osten, auf grosses Unverständnis. Gerade weil Deutschland in der Vergangenheit in Konfliktsituationen erfolgreich vermittelt hat, auch wenn es um israelische Geiseln ging. Nun steht Deutschland ziemlich allein da und verliert die Möglichkeit, konstruktiv zu einer Konfliktlösung zwischen Israel und der Hamas beizutragen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum hat angekündigt, Palästina als Staat anerkennen zu wollen. Wie werten Sie diesen Schritt?
Das ist ein Versuch Macrons, zumindest symbolisch den Friedensprozess zu beflügeln. Er signalisiert der palästinensischen Bevölkerung auch, dass er sie ernst nimmt und ihnen ihre Souveränität zuspricht. Ich glaube aber nicht, dass Israel sich davon beeinflussen lässt.
Fidèle à son engagement historique pour une paix juste et durable au Proche-Orient, j’ai décidé que la France reconnaîtra l’État de Palestine.
— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) July 24, 2025
J’en ferai l’annonce solennelle à l’Assemblée générale des Nations unies, au mois de septembre prochain.… pic.twitter.com/7yQLkqoFWC
Eine Mehrheit der Bevölkerung Israels befürwortet gemäss Umfragen einen Geiseldeal und einen Waffenstillstand. Kann diese Haltung das Vorgehen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beeinflussen?
Ich finde es zunächst sehr beeindruckend, wie viele Menschen in Israel auf die Strasse gehen. Es zeigt, dass Israel viel mehr ist als nur seine in Teilen rechtsextreme Regierung. Gleichzeitig spielt Netanjahu auf Zeit. Er möchte sein politisches Überleben sichern, deshalb kommt es ihm sehr entgegen, dass das Parlament Israels, die Knesset, für die nächsten drei Monate in der Sommerpause ist. Gelingt es Netanjahu, die noch lebenden Geiseln durch erfolgreiche Verhandlungen freizubekommen, könnte er das als seinen persönlichen Sieg verkaufen. Die Frage ist natürlich, was er der Hamas im Gegenzug geben muss.
Und wenn ein Deal nicht gelingt?
Dann sieht es für Netanjahu nicht gut aus. Das oberste Ziel für viele Israelis ist die Freilassung der Geiseln, dies ist in der Vergangenheit nur durch Verhandlungen und nicht durch Kampf geschehen. Zudem ist die Armee Israels nicht auf langfristige, massive Einsätze ausgerichtet. Wie lange und in welcher Form das jetzige Vorgehen Israels Sicherheit garantiert, ist unklar.
Die Koalition Netanjahus hat im Parlament aktuell nur noch eine hauchdünne Mehrheit. Ist sie bald ganz am Ende?
Netanjahu ist definitiv unter Druck, die Umfragewerte sprechen derzeit nicht für ihn. Deswegen hofft er auf eine Entwicklung, die ihm Auftrieb gibt, und Beobachter spekulieren, dass er in diesem Fall bis Februar nächsten Jahres Neuwahlen anberaumen würde.
Wie gross ist der Druck, den die rechtsextremen Minister in der Regierung auf Netanjahu ausüben?
Der ist ebenfalls gross. Diese Kräfte sind in den vergangenen Monaten nicht verstummt, im Gegenteil. Sie sind immer selbstbewusster geworden. Man muss jeweils zweimal lesen, wenn man sieht, was einige Politiker seiner Regierung von sich geben. Deren Aussagen sind von Radikalität und einer Entmenschlichung des palästinensischen Volkes geprägt. Sie zeugen von einer vollständigen Abkehr einer Zwei-Staaten-Lösung, eines gemeinsamen, gleichberechtigten Miteinanders.
Welche Rolle spielt US-Präsident Donald Trump hinsichtlich eines erneuten und vielleicht auch langfristigen Waffenstillstandes?
Netanjahu hat Trump als besten Freund, den Israel im Weissen Haus je hatte, bezeichnet. Er wird aber gleichzeitig von ihm düpiert. Trump hat im Mai mehreren Golfstaaten Besuche abgestattet, aber nicht in Israel Station gemacht. Stärker als alle vorherigen US-Präsidenten stellt Trump auch langjährige Allianzen infrage und er hat oft betont, für seine Unterstützung müsse für die USA etwas herausspringen. Netanjahu kann also keineswegs darauf zählen, dass Trump ihn in allem, was er tut, unterstützt. Das ist insofern ein Problem, als kein Land Israel mehr Waffen liefert als die USA.
Israel führt nicht nur Krieg gegen die Hamas. Das Land fühlt sich von zahlreichen Staaten in der Region bedroht.
Angesichts der martialischen Rhetorik des iranischen Regimes, das immer wieder zum Tod Israels aufruft, und auch nach den Aussagen des ehemaligen Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah, ist das bis zu einem gewissen Grad verständlich.
Wieso nur bis zu einem gewissen Grad?
Weil man diesen Aussagen gegenüberstellen muss, inwieweit es hier in der Vergangenheit tatsächlich zu Angriffen auf Israel gekommen ist. Der Krieg mit dem Iran in diesem Jahr hatte eine andere Qualität. Die Angriffe, bei denen auch in Tel Aviv Menschen getötet und Infrastruktur zerstört wurde, haben die Bevölkerung in Israel erschüttert. Und klar, die Raketen der Huthi-Miliz muss Israel abwehren. In sämtlichen Kriegen gegen die Hisbollah hatte Israel jedoch die Oberhand, aktuell ist die Terrororganisation so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr droht. Der neue syrische Präsident Ahmed al-Scharaa hat signalisiert, dass er keine Einmischung in die Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten plant. Die Hunderte von Male, in denen Israel Syrien bombardiert hat, sind nicht einmal mit einer Drohung beantwortet worden. Es ist eher so, dass sich Syrien vor Israel fürchten müsste, weil einige Minister Israels forderten, al-Scharaa müsse beseitigt werden.
Reden wir zum Schluss über die Zukunft: Wie realistisch ist eine Zwei-Staaten-Lösung, in der sowohl Israel als auch Palästina als souveräne Staaten friedlich nebeneinander existieren können?
Derzeit sind sicher sehr wenige Kräfte in Israel, aber auch in Palästina bereit, darüber zu reden. Von einer Zwei-Staaten-Regelung sind wir, so fürchte ich, weiter entfernt als je zuvor. Derzeit geht es für Palästina hauptsächlich darum, die massenhaften Vertreibungen des eigenen Volkes zu verhindern. Dass dies passiert, darauf deutet die gegenwärtige Situation in Gaza hin, aber auch die 50'000 bis 70'000 Palästinenser, die bereits als Binnenflüchtlinge aus Flüchtlingslagern im Westjordanland vertrieben worden sind. Ich sehe aktuell nichts, was mich glauben lässt, dass Israel bereit ist, mit den zwei Millionen Palästinensern im Gaza-Streifen zu leben.
Die Konten Verantwortlicher einfrieren, Handelsbeziehungen stoppen, Blauhelme schicken zur Unterstützung der Hilfsorganisationen, es gibt sicher noch mehr....
Es ist schade, dass wir Menschen nichts daraus lernen.