Hunderte Menschen versuchen Nacht für Nacht, die Absperrungen zum Eurotunnel zu überwinden, um von Frankreich nach Grossbritannien zu gelangen. Nicht alle der schätzungsweise etwa 3000 Menschen, die im Flüchtlingslager «Neuer Dschungel» an der Ringstrasse um das französische Calais leben, wollen allerdings von dort weg.
Viele richteten sich inzwischen auf einen längeren Aufenthalt ein. Sie schaffen nach und nach eigene Strukturen und machen ihre Geschäfte in dem Camp.
Der Sudanese Abdelasis arbeitet im Herzen des Lagers an einer festen Behausung. «Solide» solle es werden, sagt der 32-Jährige, der sich seit rund zwei Monaten in Calais aufhält. «Dank dieser Holzplanken wird es gut geschützt sein», fügt er hinzu.
In dem keinen zehn Quadratmeter grossen Unterschlupf wohnt Abdelasis mit acht weiteren Flüchtlingen, will aber nicht weiter nach Grossbritannien. «Ich will in Frankreich bleiben, weil ich hier besser beschützt werde», sagt er.
Der «Neue Dschungel», in dem es inzwischen Geschäfte, eine Schule, eine Art Lazarett, eine Kirche sowie fliessendes Wasser und Strom gibt, wächst von Tag zu Tag weiter. Einige Afghanen im sogenannten Shoppingcenter geben an, die Lage sei zu gut, als dass sie weiterreisen wollten.
«Wir haben damit angefangen, einige Flaschen Cola zu verkaufen», sagt der 30-jährige Arian aus Dschalalabad. Neben Getränken gibt es nun in seinem Laden unter anderem auch Toilettenpapier und Marmelade zu Niedrigpreisen.
«Zigaretten, das funktioniert», berichtet ein älterer bärtiger Mann mit Turban grinsend. «Sonderangebot», steht auf einem Schild. Zu kaufen gibt es selbstgedrehte Zigaretten – zehn Stück für einen Euro.
Wichtig ist den Flüchtlingen zudem, dass sie sich in dem gut 20 Hektar grossen Camp fortbewegen können. Der 38-jährige Sudanese Adam hat dafür ein altes Fahrrad. Der «Wohnwagentyp» habe es ihm besorgt, sagt er und meint damit den Briten Tim, der mit im Camp wohnt und bei Veloreparaturen hilft.
Inmitten des Camps steht ein etwas stabileres Gebäude, das als Schule dient. In einem Klassenraum, ausgestattet mit schadhaften Tischen und Stühlen, finden sich hier täglich ausser sonntags etwa 20 Erwachsene zum Unterricht zusammen.
«Wir haben 18 Lehrer aus der ganzen Region, die kostenlos Kurse anbieten», sagt ein Bewohner des Lagers. Gerade steht Französisch auf dem Stundenplan. «S'il vous plaît» (bitte) und «Quel est le prix des pâtes?» (Was kosten die Nudeln?), rezitieren die Teilnehmer.
Auch im Lazarett, das von den Flüchtlingen im Camp als Klinik bezeichnet wird, herrscht stets Betrieb. Viele Menschen kommen mit Verletzungen dorthin, die sie sich bei nächtlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei während ihrer Versuche zuzogen, die Zäune vor dem Eingang zum Eurotunnel zu überwinden.
Aber auch andere Krankheiten werden behandelt. «Ich habe mich beim Festnageln eines Bretts verletzt», sagt der 26-jährige Syrer Hamada. Es sei «gut, dass sie hier für uns da sind.»
Im von Flüchtlingen aus Äthiopien und Eritrea bewohnten Teil des Lagers ist eine 15 Meter hohe orthodoxe Kirche der grösste Stolz der Bewohner. Das Gebäude wirkt zwar etwas wacklig, und Gläubige werden am Eingang von einem Teppich mit Bärchenmuster begrüsst, Kerzenleuchter und Ikonen gibt es allerdings trotzdem auch.
«Die Messe findet am Samstagnachmittag statt, wir sind dann bis zu 200 Gläubige», sagte der 17-jährige John aus Eritrea. In nächster Zeit soll um das Gebäude herum ein Garten angelegt werden. (sda/afp)