Die Erinnerung an den Kalten Krieg verblasst. Viele Junge wissen kaum noch, wer Michail Gorbatschow war, der am Dienstag im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Das ist irgendwie unvermeidlich, aber auch bedauerlich. Denn ohne Gorbatschow sähe unsere Welt ganz anders aus. Er hat sie stärker verändert als sonst jemand in den letzten 50 Jahren.
Wer ihn und die damalige Zeit bewusst erlebt hat, weiss dies besonders zu schätzen. Denn der Kalte Krieg war kein Sandkasten-Spiel. Ost und West bedrohten sich gegenseitig mit der totalen atomaren Vernichtung. Sie hielten sich so in Schach, führten aber rund um den Globus sogenannte Stellvertreterkriege. Dabei war viel Paranoia im Spiel.
Nach einem vorsichtigen Tauwetter in den 1970er-Jahren kam es ab 1980 zu einer neuen Eiszeit. In den USA wurde der Säbelrassler Ronald Reagan Präsident. Er rüstete auf, bezeichnete die Sowjetunion als «Reich des Bösen», intensivierte die Stellvertreterkriege etwa in Nicaragua und ordnete im «Scherz» die Bombardierung Russlands an.
Die Sowjetunion wiederum verknöcherte. An der Spitze der Kommunistischen Partei löste eine wandelnde «Mumie» die nächste ab. Auf den Langzeit-Herrscher Leonid Breschnew folgte Ex-KGB-Chef Juri Andropow, der in seiner kurzen Amtszeit überraschend reformfreudig war und einen aufstrebenden Politiker aus dem Kaukasus förderte.
Dessen Name war Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Nach Andropows Tod aber kam erst der greise Apparatschik Konstantin Tschernenko an die Macht. Als er 1985 nach etwas mehr als einem Jahr ebenfalls starb, erkannte die KP-Führung, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie ernannte den 54-jährigen Gorbatschow zum Generalsekretär.
Die Reaktionen im Westen waren verhalten. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verglich den eloquenten Gorbatschow mit Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels. Einzig die britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte schon 1984 bei seinem Besuch in London realisiert, dass man mit ihm «ins Geschäft kommen» könne.
Nachdem der «Emporkömmling» seine Position an der Parteispitze gefestigt hatte, setzte er zum grossen Wurf an. Denn Gorbatschow wusste, dass es auch mit der Sowjetunion so nicht weitergehen konnte. Sie war dem Westen militärisch, politisch und wirtschaftlich hoffnungslos unterlegen. Um sie zu retten, lancierte er ein ambitioniertes Reformprogramm.
Die beiden Begriffe Glasnost (Öffnung) und Perestrojka (Umbau) elektrisierten mich und alle im Westen, die auf eine Überwindung des Kalten Kriegs hofften. Kritik war nicht mehr verboten, sondern erwünscht. Ich selbst reiste damals zweimal in die Sowjetunion und konnte miterleben, wie sich die Stimmung im Riesenreich in kurzer Zeit veränderte.
Bei meinem ersten Besuch im Frühjahr 1986 erlebte ich die alte, graue Sowjetunion. Michail Gorbatschow war noch daran, seine Macht zu sichern. Nur ein Jahr später war alles anders. Besonders bei der jüngeren Generation war eine regelrechte Aufbruchstimmung zu spüren. Mit Glasnost und Perestrojka war der Glaube an eine bessere Zukunft verbunden.
Auch im Westen wurde der charismatische KP-Chef, der Charme und Sinn für Humor hatte, zum Hoffnungsträger. Selbst der «Kommunistenfresser» Reagan realisierte beim Gipfeltreffen in Genf 1985, dass er mit ihm «ins Geschäft kommen» konnte. 1987 unterzeichneten sie den INF-Vertrag zur Vernichtung der atomaren Mittelstreckenraketen in Europa.
Mit seinen Reformen entfesselte der «Zauberlehrling» Gorbatschow jedoch Geister, die er nicht mehr loswurde. Der Funke sprang über auf die Länder des Warschauer Pakts und löste im Wendejahr 1989 einen Flächenbrand aus, der die Kommunisten von der Macht vertrieb. Es ist Gorbatschows bleibendes Verdienst, dass er den Wandel tolerierte.
«Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», soll Gorbatschow bei seinem Besuch der 40-Jahrfeier der DDR im Oktober 1989 gesagt haben. Wie dieser Satz entstand und ob er überhaupt je so ausgesprochen wurde, ist umstritten. Aber er bringt die Dynamik der damaligen Zeit perfekt auf den Punkt, und Gorbatschow bekam sie selbst zu spüren.
Denn auch in der Sowjetunion gärte es. Nach den baltischen Republiken erklärte sich die Ukraine für unabhängig. Zum neuen starken Mann wurde Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Förderation. Gorbatschow konnte noch den Konkurs des Imperiums verwalten. Als er am 25. Dezember 1991 zurücktrat, existierte sie Sowjetunion nicht mehr.
Die Zeit danach war zwiespältig. Im Westen wurde er gefeiert und mit Preisen geehrt. Vor allem in Deutschland war «Gorbi» eine Kultfigur, nachdem Helmut Kohl ihm die Zustimmung zur Wiedervereinigung – und zum Verbleib in der Nato – abringen konnte. In der Heimat aber genoss er kaum Anerkennung. Die Russen hielten ihn für einen Versager oder gar Verräter.
Dazu trug auch das Chaos der Ära Jelzin in den 1990er-Jahren bei. Sie endeten mit der Präsidentschaft von Wladimir Putin. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hatte im Interview mit watson im Frühjahr auf einen wichtigen Punkt verwiesen: Während der Gorbatschow-Reformen war Putin als KGB-Offizier im Ausland stationiert.
«Der Zerfall der Sowjetunion war für ihn ein Mysterium, das Ergebnis einer Verschwörung. Er hat den Vorgang nie richtig verstanden», meinte Krastev. Es erstaunt daher kaum, dass Putin das Ende der Sowjetunion als «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnete. Und sich zum Ziel setzte, sie teilweise rückgängig zu machen.
Michail Gorbatschow war in gewisser Weise ein «Anti-Putin». Er wollte die Sowjetunion nicht zerstören, er wollte sie reformieren. Am Ende aber akzeptierte er, dass er das Rad der Zeit nicht aufhalten konnte. Wladimir Putin hingegen will es zurückdrehen, mit aller Gewalt, was die Ukraine und die Opposition im Inland derzeit zu spüren bekommen.
Diese Entwicklung soll Gorbatschow, der sich in den letzten Monaten wegen seiner Krankheit nicht mehr zu Wort meldete, geschmerzt haben. Im Westen aber bleibt er eine Lichtgestalt. Einmal bin ich ihm persönlich begegnet. Als er Mitte der 90er-Jahre in einer Buchhandlung in Manhattan mit Ehefrau Raissa seine Autobiografie signierte, stellte ich mich in die Reihe.
Ich neige nicht zum Pathos, und doch war es ein bewegender Moment, als ich einem Mann die Hand schütteln konnte, der die Welt wie kein anderer zu meinen Lebzeiten verbessert hat. Auch wenn er dies in dieser Form gar nicht gewollt hatte.
Er hat Russland wieder ein menschliches Image gegeben, nach all diesen unsäglichen, kommunistischen "Betonköpfen".
Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als sich die Völker annäherten und der eiserne Vorhang fiel.
Und dann kam mit dem Monster Putin eine schwere Enttäuschung und der Tod war in seinem Gepäck...
Ruhe in Frieden, Gorbi. Ich werde dich nicht vergessen!