Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage im Nahen Osten nach den neuesten Eskalationen?
Erich Gysling: Mit einem Wort: brenzlig.
Das heisst?
Die Lage ist sehr labil. Wir wissen nicht, wer in den Konflikt eingreift, was Israel tun wird. Es ist derzeit wahnsinnig viel Ungewissheit vorhanden. Stand jetzt (Montag, 15 Uhr) bereitet sich Israel vermutlich auf eine Bodenoffensive in Richtung Libanon vor. Der Iran wiederum zögert und versucht, die Verantwortung von sich wegzuschieben. Er hat keine Lust, ins aktuelle Geschehen hineingezogen zu werden und dürfte sich für die nächste Zeit heraushalten. Die grundsätzliche Gefahr, die vom Iran ausgeht, wird jedoch bestehen bleiben. Und auch die finanzielle und logistische Unterstützung für ihre Verbündeten – Hisbollah, Hamas, Huthi-Rebellen – wird bestehen bleiben.
Wieso bleibt die Gefahr bestehen?
Im Iran gibt es zwei Stränge. Den religiösen unter dem geistlichen Führer Ali Khamenei und den militärischen, der in den Händen der Revolutionswächter liegt. Wir wissen nicht, wie die Kommunikation zwischen diesen beiden Parteien abläuft. Es kann sein, dass die Revolutionswächter der Meinung sind, das Vorgehen Israels und die Ermordung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah nicht auf sich sitzen lassen zu wollen.
Ali Khamenei, der geistliche Führer Irans, wurde laut Reuters an einen geheimen Ort gebracht – wie ist dies zu interpretieren?
Die iranischen Geheimdienste haben sich gewaltig blamiert, als Israel den politischen Chef der Hamas, Ismail Hanija, im Juli in einem Gebäude der iranischen Revolutionswächter in der Hauptstadt Teheran ermorden konnte. Die Geheimdienste des Irans setzen nun natürlich alles daran, dass bei Ali Khamenei nicht dasselbe geschieht.
Dann hängt es allein von Israel ab, ob es in der Region zu einem grösseren Krieg kommt?
Das kann man so sagen. Sollte Israel seine Angriffe weiterführen und beispielsweise auch den Iran direkt angreifen, haben wir ein riesiges Problem.
Sie haben eine mögliche Bodenoffensive Israels gegen den Libanon angesprochen. Wie würde sich diese von der Offensive in Gaza unterscheiden?
Im Gegensatz zur Bodenoffensive im Gazastreifen, wo das Terrain sehr flach ist, ist der Süden Libanons hügelig. Da kommt ein Hügel nach dem anderen, durchzogen von zahlreichen Siedlungen. Dort vorwärtszukommen ist für das israelische Militär deutlich schwieriger, als es im Gazastreifen der Fall war.
Wie nachhaltig geschwächt ist die Hisbollah, nachdem Israel Hassan Nasrallah und zahlreiche weitere ihrer Führer ausschalten konnte?
In allen diesen parastaatlichen Institutionen – Hisbollah, Hamas etc. – ist immer eine neue Generation nachgekommen. Das Problem dabei: Die nachfolgenden Generationen waren immer radikaler als die vorangehenden. Bis diese neue Generation organisiert ist, wird es eine Weile dauern. Die Kommunikation der Hisbollah wurde ja durch die Attacke auf die Pager und die Walkie-Talkies massiv erschwert. Wie die Hisbollah-Mitglieder untereinander in Kontakt sind und sich austauschen können, weiss niemand. Sicher ist, dass die Miliz bei der Kommunikation grösstmögliche Sicherheit walten lässt.
Von einer Ausschaltung der Hisbollah kann also keine Rede sein?
Auf keinen Fall. Dies zeigen nur schon die Zahlen. Durch die Pager-Attacken wurden etwa 3000 Hisbollah-Mitglieder verletzt und verstümmelt, die sind weg. Die ganze Führung ist derzeit auch weg, das sind ebenfalls mehrere Hundert Personen. Die Hisbollah hat aber mindestens 40'000 ausgebildete Kämpfer. Nasrallah sprach sogar von 100'000, diese Zahl muss man jedoch nicht ernst nehmen. Fakt ist: Die Reserve ist gross und die Hisbollah schiesst weiterhin Raketen auf den Norden Israels ab. Dieser Krieg wird lange andauern.
Welche Rolle spielt die Hisbollah im Libanon?
Die Hisbollah ist einerseits eine Miliz, andererseits aber auch eine politische Partei, die in der Regierung vertreten ist. Das macht es kompliziert. Es gibt viele westliche Staaten, welche die Hisbollah als Terrororganisation bezeichnen. Die Trennlinie zwischen Miliz und politischer Institution ist alles andere als scharf. Setzt man die Hisbollah auf eine schwarze Liste, führt dies dazu, dass man mit wesentlichen Akteuren der libanesischen Politik keinen Kontakt mehr haben kann. Dieses Problem hatten jüngst die US-Amerikaner. Mit der Bezeichnung Terrormiliz müssen Staaten im eigenen Interesse vorsichtig sein.
Wie stark ist die Hisbollah in der libanesischen Politik?
Das politische System im Libanon besteht aus religiös bedingten Fraktionen, die miteinander möglichst wenig zu tun haben wollen. Es gibt eine Fraktion für die muslimischen Sunniten, eine für die Schiiten, eine für die christlichen Maroniten. Diejenigen Fraktionen, die nicht zu den Schiiten gehörten, hatten zu Recht das Gefühl, dass die Hisbollah das ganze politische Geschehen diktiert, auch die Art und Weise, wie der Konflikt mit Israel geführt wird. Der Teil der Bevölkerung, der nicht den Schiiten angehört, fühlt sich seit Jahren als Geisel der Hisbollah. Insbesondere seit dem 7. Oktober vergangenes Jahr.
Zum libanesischen Volk sagte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu am Samstag: «Wir befinden uns nicht im Krieg mit euch. Wir befinden uns im Krieg mit der Hisbollah, die euer Land gekapert hat und droht, unseres zu zerstören.» Kann man das so sehen?
Das ist aus der praktischen, militärischen Optik natürlich Unsinn. Die Bomben, die Israel über dem Südlibanon abwirft, treffen zahlreiche Menschen, die nicht zur Hisbollah gehören. Bereits jetzt flüchten Hunderttausende, sogar nach Syrien, das ein problematischer Nachbar ist. Israels Bomben treiben einen Grossteil der nicht schiitischen Libanesinnen und Libanesen in die Flucht und ins Elend.
Was sagen Sie generell zur Kriegsstrategie Israels?
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu agiert grössenwahnsinnig. Er meint, dass er an sämtlichen Fronten Krieg führen kann. Ob dies jedoch für Israel gut ausgeht, da habe ich meine grossen Zweifel. Die Wirtschaft leidet bereits unter dem Krieg in Gaza. Ob es nötig war, im Libanon eine zweite Front aufzutun? Ich weiss es nicht.
Die zivilen "Kollateralschäden" bei den Angriffen auf die Hisbollah sind derweil ein zynisches Bauernopfer um Netanyahus Politkarriere zu retten...
Israel ist angeblich Vorposten der westlichen Zivilisation in der islamischen Welt. Darf man seinem Vorposten Apartheid, Terrorismus, Kindermord und Völkermord durchgehen lassen? Der gesamte Westen verspielt gerade die letzten Reste ihrer Glaubwürdigkeit.
Ich empfehle stark Dokus wie diese von ARTE, welche einen Seitenblick gewähren: