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Interview

Israels Bodenoffensive im Libanon: «Das ist grössenwahnsinnig»

Interview

Nahost-Kenner Gysling: «Das ist aus der praktischen, militärischen Optik natürlich Unsinn»

Die Situation im Nahen Osten bleibt nach dem Tod von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah aufgeheizt. Experte Erich Gysling über eine mögliche Bodenoffensive Israels im Libanon und das passive Verhalten des Irans.
30.09.2024, 17:4301.10.2024, 09:21
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Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage im Nahen Osten nach den neuesten Eskalationen?
Erich Gysling: Mit einem Wort: brenzlig.

Das heisst?
Die Lage ist sehr labil. Wir wissen nicht, wer in den Konflikt eingreift, was Israel tun wird. Es ist derzeit wahnsinnig viel Ungewissheit vorhanden. Stand jetzt (Montag, 15 Uhr) bereitet sich Israel vermutlich auf eine Bodenoffensive in Richtung Libanon vor. Der Iran wiederum zögert und versucht, die Verantwortung von sich wegzuschieben. Er hat keine Lust, ins aktuelle Geschehen hineingezogen zu werden und dürfte sich für die nächste Zeit heraushalten. Die grundsätzliche Gefahr, die vom Iran ausgeht, wird jedoch bestehen bleiben. Und auch die finanzielle und logistische Unterstützung für ihre Verbündeten – Hisbollah, Hamas, Huthi-Rebellen – wird bestehen bleiben.

«Die Geheimdienste des Irans setzen nun natürlich alles daran, dass bei Ali Khamenei nicht dasselbe geschieht.»

Wieso bleibt die Gefahr bestehen?
Im Iran gibt es zwei Stränge. Den religiösen unter dem geistlichen Führer Ali Khamenei und den militärischen, der in den Händen der Revolutionswächter liegt. Wir wissen nicht, wie die Kommunikation zwischen diesen beiden Parteien abläuft. Es kann sein, dass die Revolutionswächter der Meinung sind, das Vorgehen Israels und die Ermordung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah nicht auf sich sitzen lassen zu wollen.

Portrait of Erich Gysling, publicist, correspondent and Middle-East expert, pictured on June, 28, 2011, in Affoltern am Albis, canton of Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
Bild: KEYSTONE
Zur Person
Erich Gysling (88) war Chefredaktor des Schweizer Fernsehens und Mitbegründer der Sendung «Rundschau». Heute schreibt er für die Internetzeitung Journal21. Er hat zahlreiche Reisen in den arabischen Raum unternommen und kennt die Region seit Jahrzehnten. Der Nahostexperte kommuniziert in neun Sprachen, darunter Arabisch und Farsi.

Ali Khamenei, der geistliche Führer Irans, wurde laut Reuters an einen geheimen Ort gebracht – wie ist dies zu interpretieren?
Die iranischen Geheimdienste haben sich gewaltig blamiert, als Israel den politischen Chef der Hamas, Ismail Hanija, im Juli in einem Gebäude der iranischen Revolutionswächter in der Hauptstadt Teheran ermorden konnte. Die Geheimdienste des Irans setzen nun natürlich alles daran, dass bei Ali Khamenei nicht dasselbe geschieht.

In this photo released by the official website of the office of the Iranian supreme leader, Supreme Leader Ayatollah Ali Khamenei attends a meeting with the President Masoud Pezeshkian's administ ...
Irans geistlicher Führer Ali Khamenei im August dieses Jahres in Teheran.Bild: keystone
«Im Gegensatz zur Bodenoffensive im Gazastreifen, wo das Terrain sehr flach ist, ist der Süden Libanons hügelig.»

Dann hängt es allein von Israel ab, ob es in der Region zu einem grösseren Krieg kommt?
Das kann man so sagen. Sollte Israel seine Angriffe weiterführen und beispielsweise auch den Iran direkt angreifen, haben wir ein riesiges Problem.

Sie haben eine mögliche Bodenoffensive Israels gegen den Libanon angesprochen. Wie würde sich diese von der Offensive in Gaza unterscheiden?
Im Gegensatz zur Bodenoffensive im Gazastreifen, wo das Terrain sehr flach ist, ist der Süden Libanons hügelig. Da kommt ein Hügel nach dem anderen, durchzogen von zahlreichen Siedlungen. Dort vorwärtszukommen ist für das israelische Militär deutlich schwieriger, als es im Gazastreifen der Fall war.

«Das Problem dabei: Die nachfolgenden Generationen waren immer radikaler als die vorangehenden.»

Wie nachhaltig geschwächt ist die Hisbollah, nachdem Israel Hassan Nasrallah und zahlreiche weitere ihrer Führer ausschalten konnte?
In allen diesen parastaatlichen Institutionen – Hisbollah, Hamas etc. – ist immer eine neue Generation nachgekommen. Das Problem dabei: Die nachfolgenden Generationen waren immer radikaler als die vorangehenden. Bis diese neue Generation organisiert ist, wird es eine Weile dauern. Die Kommunikation der Hisbollah wurde ja durch die Attacke auf die Pager und die Walkie-Talkies massiv erschwert. Wie die Hisbollah-Mitglieder untereinander in Kontakt sind und sich austauschen können, weiss niemand. Sicher ist, dass die Miliz bei der Kommunikation grösstmögliche Sicherheit walten lässt.

epa11632819 Supporters of Shi'ite Muslims organization Majlis-e-Wahdat-e-Muslameen (MWM), hold pictures of late Hezbollah leader Hassan Nasrallah during an anti-Israel protest in Lahore, Pakistan ...
Israel hat Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah ausgeschaltet.Bild: keystone

Von einer Ausschaltung der Hisbollah kann also keine Rede sein?
Auf keinen Fall. Dies zeigen nur schon die Zahlen. Durch die Pager-Attacken wurden etwa 3000 Hisbollah-Mitglieder verletzt und verstümmelt, die sind weg. Die ganze Führung ist derzeit auch weg, das sind ebenfalls mehrere Hundert Personen. Die Hisbollah hat aber mindestens 40'000 ausgebildete Kämpfer. Nasrallah sprach sogar von 100'000, diese Zahl muss man jedoch nicht ernst nehmen. Fakt ist: Die Reserve ist gross und die Hisbollah schiesst weiterhin Raketen auf den Norden Israels ab. Dieser Krieg wird lange andauern.

«Setzt man die Hisbollah auf eine schwarze Liste, führt dies dazu, dass man mit wesentlichen Akteuren der libanesischen Politik keinen Kontakt mehr haben kann.»

Welche Rolle spielt die Hisbollah im Libanon?
Die Hisbollah ist einerseits eine Miliz, andererseits aber auch eine politische Partei, die in der Regierung vertreten ist. Das macht es kompliziert. Es gibt viele westliche Staaten, welche die Hisbollah als Terrororganisation bezeichnen. Die Trennlinie zwischen Miliz und politischer Institution ist alles andere als scharf. Setzt man die Hisbollah auf eine schwarze Liste, führt dies dazu, dass man mit wesentlichen Akteuren der libanesischen Politik keinen Kontakt mehr haben kann. Dieses Problem hatten jüngst die US-Amerikaner. Mit der Bezeichnung Terrormiliz müssen Staaten im eigenen Interesse vorsichtig sein.

Wie stark ist die Hisbollah in der libanesischen Politik?
Das politische System im Libanon besteht aus religiös bedingten Fraktionen, die miteinander möglichst wenig zu tun haben wollen. Es gibt eine Fraktion für die muslimischen Sunniten, eine für die Schiiten, eine für die christlichen Maroniten. Diejenigen Fraktionen, die nicht zu den Schiiten gehörten, hatten zu Recht das Gefühl, dass die Hisbollah das ganze politische Geschehen diktiert, auch die Art und Weise, wie der Konflikt mit Israel geführt wird. Der Teil der Bevölkerung, der nicht den Schiiten angehört, fühlt sich seit Jahren als Geisel der Hisbollah. Insbesondere seit dem 7. Oktober vergangenes Jahr.

«Israels Bomben treiben einen Grossteil der nicht schiitischen Libanesinnen und Libanesen in die Flucht und ins Elend.»

Zum libanesischen Volk sagte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu am Samstag: «Wir befinden uns nicht im Krieg mit euch. Wir befinden uns im Krieg mit der Hisbollah, die euer Land gekapert hat und droht, unseres zu zerstören.» Kann man das so sehen?
Das ist aus der praktischen, militärischen Optik natürlich Unsinn. Die Bomben, die Israel über dem Südlibanon abwirft, treffen zahlreiche Menschen, die nicht zur Hisbollah gehören. Bereits jetzt flüchten Hunderttausende, sogar nach Syrien, das ein problematischer Nachbar ist. Israels Bomben treiben einen Grossteil der nicht schiitischen Libanesinnen und Libanesen in die Flucht und ins Elend.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am heutigen Samstag einen speziellen Rekord bei der Amtszeit erzielt. (Archivbild)
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu agiert derzeit mit aller Härte.Bild: EPA

Was sagen Sie generell zur Kriegsstrategie Israels?
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu agiert grössenwahnsinnig. Er meint, dass er an sämtlichen Fronten Krieg führen kann. Ob dies jedoch für Israel gut ausgeht, da habe ich meine grossen Zweifel. Die Wirtschaft leidet bereits unter dem Krieg in Gaza. Ob es nötig war, im Libanon eine zweite Front aufzutun? Ich weiss es nicht.

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130 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Felix Tschapajew
30.09.2024 18:09registriert November 2020
Vllt nicht "nötig" in Sachen Beruhigung der Lage in der Region aber Bibi wird schon verstanden haben, dass es ihm und seiner Regierung an den Kragen geht, kaum dass der IDF nicht mehr im Kriegseinsatz steht. Vor ein paar Wochen liefen wieder Demos mit Hunderttausenden in Tel Aviv an, dann intensiviert Israel plötzlich seine Schläge gegen den Libanon.
Die zivilen "Kollateralschäden" bei den Angriffen auf die Hisbollah sind derweil ein zynisches Bauernopfer um Netanyahus Politkarriere zu retten...
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Seitenblick
01.10.2024 00:35registriert September 2024
Israels Gegner sind für unsere Politiker „Terror-Organisationen“. Israel aber trotz terroristischer Kriegsführung ein sich verteidigender Rechtsstaat?

Israel ist angeblich Vorposten der westlichen Zivilisation in der islamischen Welt. Darf man seinem Vorposten Apartheid, Terrorismus, Kindermord und Völkermord durchgehen lassen? Der gesamte Westen verspielt gerade die letzten Reste ihrer Glaubwürdigkeit.

Ich empfehle stark Dokus wie diese von ARTE, welche einen Seitenblick gewähren:
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Lektor1956
30.09.2024 20:03registriert Juni 2023
Die Terrororganisationen im Libanon und in Gaza richten sich wie die „Made im Speck“ mit mafiaähnlichen Strukturen in den Quartieren von unbeteiligten Zivilisten ein. Die offizielle Regierung im Libanon wäre bereit, mit den internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um ihre Bevölkerung zu schützen. Die extremistischen, verbrecherischen, aggressiven, arbeitsscheuen Loser von Hamas und Hisbollah, mit „gütiger“ Unterstützung des menschenverachtenden Regimes im Iran, haben nur ein Ziel: Erhalt der mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen und Eliminierung Israels - und die UNO spielt mit.
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