Herr General, warum ist Moskau im Ukraine-Krieg dazu übergegangen, Wohnhäuser zu bombardieren und über den Einsatz von Atomwaffen und «schmutzigen Bomben» zu spekulieren?
Ben Hodges: Die Russen sind in jeder Facette dieses Konfliktes besiegt worden, in der Luft, an Land und auf See. Die Ukraine befindet sich in der Offensive und dieser unumkehrbare Schwung lässt sich nicht bremsen. Weil Moskau diesen Vormarsch nicht rückgängig machen kann, versuchen die Russen, den Konflikt in die Länge zu ziehen, und zwar so lange wie möglich.
Mit welchem Ziel?
Sie hegen die Hoffnung, dass der Westen – die USA, Deutschland, Frankreich und andere, wichtige Verbündete Kiews – im Laufe des Winters die Ukraine fallen lässt. Auch wollen die Russen die Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung brechen, mit Angriffen auf die Infrastruktur. Das ist aber unmöglich. Der Wille der Ukrainer lässt sich nicht brechen.
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Aber die Angriffe der Russen zeigen Wirkung.
Die anhaltenden Attacken erschweren den Alltag, keine Frage. Derzeit kann ich noch nicht sagen, wie sehr. Aber ich habe das Gefühl, dass die Ukrainer, die mich stets als unglaublich widerstandsfähig und technisch versiert beeindruckt haben, sich anpassen werden.
Die Strategie der Russen ist also zum Scheitern verurteilt?
Es ist, als hätten die Russen das Kapitel der Militärgeschichte nicht gelesen, in dem steht, dass die Bombardierung der Zivilbevölkerung fast nie zum gewünschten Ziel führt. Aber die Russen haben keine andere Möglichkeit mehr. Schauen Sie sich die Mobilisierung der unglücklichen Russen an, die es versäumt hatten, das Land rechtzeitig zu verlassen und nun unvorbereitet und ohne Training auf das Schlachtfeld geschickt werden! Das ist eine Katastrophe, die für den Kreml ziemlich nach hinten losging.
Dann können wir die Drohungen der russischen Führung künftig ignorieren?
Ich nehme sämtliche Drohungen des Kremls ernst. Ganz offensichtlich ist das auch die Politik des Weissen Hauses – so telefonierten der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und sein russisches Gegenüber Sergej Schoigu in den vergangenen Tagen, nach einer längeren Pause, gleich zweimal miteinander. Andererseits glaube ich nicht, dass die Russen eine Atomwaffe zünden werden. Denn ein solcher Einsatz hätte katastrophale Folgen für Russland. Auch bin ich nicht überzeugt davon, dass die Menschen um Wladimir Putin einen solchen Einsatz befürworten. Diese Berater denken bereits über die Zeit nach Putin nach.
Von Schoigus Warnung, dass die Ukrainer unter falscher Flagge eine nuklear verseuchte Waffe einsetzen könnten, halten sie demnach auch nichts?
Der Kreml hat null Glaubwürdigkeit, und niemand glaubt Schoigu, wenn er Warnungen über eine «schmutzige Bombe» ausstösst. Die ganze Sache klingt nach einem Hirngespinst eines Teenagers.
Könnte die anhaltende Berichterstattung über eine drohende Eskalation des Ukraine-Krieges nicht dazu führen, dass sich in der Bevölkerung des Westens Zweifel an der Unterstützung Kiews breit machen?
Ich glaube nicht, dass der Kreml neue Unterstützer gewinnen wird, indem Russland den Krieg in die Länge zieht. Die Menschen in Russland werden früher oder später realisieren, dass es keinen Lichtblick gibt. Der Krieg ist nun im neunten Monat. Vor uns steht ein Winter, der den Menschen in Europa sicherlich grosse Opfer abverlangen wird. Es wird hart werden. Aber wie Garry Kasparow zutreffend sagte, das ist der letzte Winter in dem Russland in der Lage sein wird, andere Volkswirtschaften auf den Kopf zu stellen.
Glauben Sie auch daran, dass der ukrainische Vormarsch auf dem Schlachtfeld anhalten wird?
Bis Ende Jahr werden die Russen sämtliche Gebiete aufgeben müssen, die sie im Zuge des Krieges eroberten. Und dann steht zu Beginn des nächsten Jahres die Befreiung der Krim an.
Sie überraschen mich mit Ihrem Optimismus.
Krieg ist eine Frage der Ausdauer; der Gewinner verfügt über den stärkeren Willen und eine bessere Logistik. Es ist offensichtlich, dass die russischen Soldaten nicht den Willen haben, gegen die ukrainischen Soldaten und die ukrainische Bevölkerung zu kämpfen. Einige Hunderttausend Männer im wehrfähigen Alter haben in den vergangenen Wochen das Land verlassen, um der Mobilisierung zu entgehen. Allein diese Tatsache zeigt mir, dass Russland am Ende ist.
Hinzu kommt der Kampfesmut der Ukrainer.
Die Ukrainer gehen sehr geschickt vor, auch wenn ihre Logistik natürlich nicht perfekt ist. Sie wird aber wöchentlich besser, dank der Unterstützung des Westens. Sie greifen die Schwachpunkte der Russen an, Brücken und Munitionslager. Ausserdem besitzt die Ukraine gegen 700'000 Menschen in Uniform. Nicht alle sind gut ausgebildet, keine Frage, aber die Ukraine muss sich keine Sorgen über fehlende Manpower machen.
Wie wird der weitere Kriegsverlauf aussehen?
Zunächst steht die Befreiung von Cherson an, vielleicht bereits in zwei Wochen oder so. Anschliessend wird die Gegenoffensive an zwei Flügeln weitergehen. Auf der einen Seite werden die ukrainischen Soldaten Luhansk und Donezk befreien. Auf der anderen Seite wird der Vormarsch südlich von Cherson weitergehen. Ich würde sagen: Alle Wege führen auf die Krim. Je stärker sich die Streitkräfte der Krim annähern, desto häufiger können sie russische Stellungen mit Hilfe westlicher Präzisionswaffen unter Beschuss nehmen. Im Frühling, glaube ich, werden sie auch russische Luftwaffenstützpunkte auf der Krim und den Hafen von Sewastopol angreifen können.
Und dann wird der russische Widerstand zusammenbrechen?
Den russischen Streitkräften wird es zunehmend schwerfallen, die Krim zu halten. Die Ukrainer können, sobald sie den Dnjepr überquert haben, die Wasserversorgung unterbrechen. Weil die Brücke bei Kertsch erst im nächsten Jahr vollständig repariert sein wird, werden die Russen versuchen, die Krim über den Landweg zu versorgen. Aber ziemlich bald schon werden die Ukrainer in der Lage sein, auch diese Routen unter Beschuss zu nehmen.
Dennoch fällt es schwer, sich einen russischen Rückzug von der Krim vorzustellen. Das wäre die grösste Blamage für den Kreml seit dem Ende des Kalten Krieges …
… seit Afghanistan, ja.
Und wir wissen, welche Folgen der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan in der zweiten Hälfe der Achtzigerjahre hatte: Der Rückzug läutete den Zusammenbruch der UdSSR ein.
Der Historiker Timothy Snyder sagte kürzlich: Für alle involvierten russischen Akteure mag es schlimm sein, in der Ukraine zu verlieren. Aber es wäre schlimmer, in Russland zu verlieren. Der Zeitpunkt wird kommen, an dem einflussreiche Menschen in Russland zur Kenntnis nehmen, dass sich das Kriegsgeschehen nicht mehr zu Gunsten des Kremls wenden lässt.
Dieser Selbsterhaltungstrieb der russischen Elite könnte den Krieg stoppen?
Nichts, was Russland jetzt tut, verbessert die Position des Landes in der Welt. Nichts. Null. Abgesehen von Iran und Venezuela will niemand mehr den Kreml unterstützen. Dies erhöht den Druck auf die Menschen um Putin. Sie werden bald zur Einsicht kommen: Ich muss mich schützen.
Wie recht er hat!
Jetzt bloss nicht resignieren und aufgeben.
So intelligent ist Putin nicht um das zu sehen. Er ist blos Bauernschlau und hat eine Hinterhofschlägerintelligenz. Also kämpfen bis KO und so viel wie möglich zerstören auf dem Weg zum eigenen Untergang.
Das einzige was Putin noch vermag ist, seine Hybris zu unserer zu machen. Das sollte ihm auf keinen Fall gelingen!