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Retter bei der Flüchtlingskatastrophe: «Wir sind dorthin, wo wir Schreie gehört haben»

Retter bei der Flüchtlingskatastrophe: «Wir sind dorthin, wo wir Schreie gehört haben»

Die wenigen Überlebenden der grossen Katastrophe im Mittelmeer sind auf Sizilien angekommen. Im Hafen von Catania berichten die Retter von ihrer tragischen Mission. Dann machen sie sich entkräftet auf – zum nächsten Einsatz.
21.04.2015, 22:4222.04.2015, 04:47
Fabian Reinbold, catania 
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Ein Artikel von
Spiegel Online

Die Flüchtlinge sind schon wieder weg. Gleich nach der Ankunft in Sizilien wurden die 27 Überlebenden weitergeschleust durch die italienische Asylmaschine: 21 kamen ins nahe Auffanglager, vier Teenager ins Jugendheim, zwei der mutmasslichen Schleuser - Kapitän und Steuermann - auf die Polizeiwache.

Die Retter bleiben zurück. Sie gehen in Catania gerade von Bord der «Gregoretti». Ein Arzt, 30 Jahre alt, und ein Sanitäter, 23 Jahre: die medizinische Abteilung des Küstenwachkreuzers. Sie haben dafür gesorgt, dass es zumindest diese 27 geschafft haben. Giuseppe Pomilla, der Arzt, sagt zur Begrüssung: «Schade, dass Ihr nie vorbeikommt, wenn wir mehr Lebende retten.»

Überlebende werden von Helfern von einem Schiff der italienischen Küstenwache geleitet.
Überlebende werden von Helfern von einem Schiff der italienischen Küstenwache geleitet.Bild: Getty Images Europe

Die wohl grösste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hat auch in Catania, dem zweitgrössten Hafen Siziliens, die Dinge verändert. Migranten stranden hier Tag für Tag, doch bei der Ankunft der «Gregoretti» mit Überlebenden des Unglücks mit bis zu tausend Toten warteten in der Nacht zum Dienstag nicht nur Helfer des Rotes Kreuzes - sondern Kamerateams aus ganz Europa und Demonstranten. «Mörder, Mörder!», rufen sie dem italienischen Verkehrsminister entgegen.

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«Da hat er gelächelt»

Denn diese 27 Überlebenden sind ein Politikum. Und ihre Retter finden sich plötzlich im Rampenlicht der grossen Flüchtlingsdebatte wieder.

Eigentlich versorgen Giuseppe Pomilla, der Mediziner aus Palermo, und Enrico Vitiello, Sanitäter aus Neapel, an Bord die geretteten Flüchtlinge. Schon seit vergangenem Sommer sind sie für den Malteserorden auf dem Mittelmeer unterwegs. Doch in der Nacht zum Sonntag mussten sie mit raus auf die Schlauchboote. Zusammen mit drei, vier Küstenwächtern, mussten sie Körper aus dem Wasser ziehen, immer wieder. «Wir sind dorthin, wo wir Schreie gehört haben», sagen sie.

Pomilla, der Arzt, erzählt, wie ihn ein Afrikaner, den er gerade an Bord gezogen hatte, im perfekten Englisch fragte: Wer seid ihr? «'Wir sind Italiener', habe ich gesagt. Da hat er gelächelt.»

Frauen gedenken im Hafen von Catania der toten Bootsmigranten.
Frauen gedenken im Hafen von Catania der toten Bootsmigranten.Bild: Getty Images Europe

«Ich denke an meine Freunde da draussen»

Die meisten der Überlebenden kämen aus Mali. Manche hatte er schon aufgegeben. Ein Mann, «24, 25 Jahre alt vielleicht und sehr gross», war bereits ganz starr, als sie ihn herausfischten. «Der schwamm schon zwei Stunden im Wasser,» sagt Pomilla. «Ich wusste nicht, ob er tot ist oder noch lebt.»

Später, wieder an Bord der «Gregoretti», hörte er aus der Krankenstation ein Schluchzen. Als er nachschaute, stand dort der Mann. «Er lag nicht, er sass nicht, er stand und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.» Mit tränenerstickter Stimme habe der Flüchtling gesagt: «Ich denke an meine Freunde da draussen.» Da habe auch er geweint, sagt der Arzt. «Wir haben uns dann umarmt.»

Pomilla, der Arzt, und Vitiello, der Sanitäter, sind nicht Teil der Rettungseinsätze «Triton» oder «Mare Nostrum», über die in diesen Tagen so viel diskutiert wird. Sie sind ein Stück Alltag der italienischen Küstenrettung, in dem seit Jahren manche Flüchtlinge gerettet werden, andere ertrinken oder verdursten. Sie sind nur im Scheinwerferlicht, weil es diese Grosskatastrophen der vergangenen Tage gab.

Flüchtlingsretter als begehrte Interviewpartner

Jetzt haben die Kamerateams die beiden Retter entdeckt. Am Dienstagmittag werden sie im Hafen so platziert, dass an der Pier im Hintergrund die «Gregoretti» zu sehen ist. Sie erzählen ihre Geschichten jetzt noch ein paar Mal in die Mikrofone: ARD, France 2, und ein Brite von Sky News fragt, ob Pomilla nicht noch mal auf Englisch erzählen könne, wie er da an einem Bein gezogen habe, ohne zu wissen, ob der dazugehörige Körper gelebt habe. Nein, sagt der, scusi.

Aber sie machen das jetzt mit, geben in der prallen Sonne Interview um Interview. Jetzt sind es die Flüchtlingsretter, die selber entkräftet von Kollegen eine Flasche Wasser gereicht bekommen. Pomilla trinkt sie in zwei Zügen aus.

Migranten in der libyischen Hauptstadt Tripolis: Sie wurden von den Behörden an der Bootsüberfahrt nach Europa gehindert.
Migranten in der libyischen Hauptstadt Tripolis: Sie wurden von den Behörden an der Bootsüberfahrt nach Europa gehindert.Bild: ISMAIL ZITOUNY/REUTERS

Vitiello sagt, seit dem Notruf am Samstagabend habe er insgesamt vielleicht vier Stunden geschlafen. Sie haben weitere Überlebende eingesammelt, die ein portugiesisches Handelsschiff aufgefischt hatte, haben in Malta Leichensäcke an Bord genommen, Schmerz- und Schlafmittel verteilt. Im Hinterkopf, sagt Vitiello, immer wieder der Gedanke: Da waren Hunderte, die wir weder tot noch lebendig erwischt haben.

Die nächste Patrouillenfahrt steht an

Ihnen ist es wichtig, über ihren Alltag zu sprechen. Ihr Chef, der Direktor des italienischen Malteserordens, ist extra aus Rom angereist. Nach zwei Stunden beendet er den Interviewmarathon. «Basta, sie müssen jetzt an Bord.»

Am Abend läuft die «Gregoretti» wieder aus. Die nächste Patrouillenfahrt zwischen Sizilien, Lampedusa und der Küste Libyens, wo Tag für Tag die Boote der Migranten ablegen. Pomilla, der Arzt, und Vitiello, der Sanitäter, sollen sich zumindest noch ein, zwei Stunden ausruhen können.

Doch bevor Pomilla an Bord geht, hat er selbst noch eine Frage: «Was denkt ihr Deutschen eigentlich über das, was wir hier machen?»

Bootsmigration über das Mittelmeer

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Lampedusa Flüchtlinge
Afrikanische Flüchtlinge nahe Lampedusa.
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