Bei einem überraschenden Auftritt vor dem UN-Sicherheitsrat hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gefordert, Russland als «Terrorstaat» zu bestrafen. Russland müsse aus dem Sicherheitsrat ausgeschlossen werden, sagte Selenskyj, der bei einer kurzfristig anberaumten Sitzung am Dienstag in New York per Video zugeschaltet war. In der Nacht zum Mittwoch gingen die Kämpfe weiter. Die Nachrichtenagentur Ukrinform meldete zwei Raketeneinschläge in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Im Süden der Stadt sei ein Feuer ausgebrochen. Angaben über Verletzte und Schäden lagen noch nicht vor.
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Der ukrainische Präsident warf Russland nach dem Beschuss eines Einkaufszentrums in der Grossstadt Krementschuk, bei dem mindestens 20 Menschen ums Leben kamen, gezielte Angriffe auf ukrainische Zivilisten vor. «Es ist zwingend erforderlich, ein Tribunal einzurichten, um alles zu untersuchen, was das russische Militär gegen die Ukrainer getan hat», sagte Selenskyj.
Auch in seiner anschliessenden täglichen Videobotschaft wiederholte er die Terrorvorwürfe gegen Russland. Der Angriff gegen das Einkaufszentrum sei gezielt gewesen, um möglichst viele Menschen zu töten, sagte Selenskyj. Seinen Worten nach hat Russland seit Kriegsbeginn 2811 Raketen auf ukrainische Städte abgefeuert.
Russland reagierte verärgert auf den Auftritt Selenskyjs im UN-Sicherheitsrat. Dieser sei im letzten Moment auf die Tagesordnung gesetzt und nicht mit allen Mitgliedern abgestimmt worden, klagte der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitri Poljanski. Der russische Top-Diplomat sprach von einem Verstoss gegen die übliche Praxis der Arbeit im UN-Sicherheitsrat.
Den Vorwurf eines Angriffs auf zivile Objekte stritt Poljanski ab. Zuvor hatte die russische Militärführung zwar den Beschuss von Krementschuk eingeräumt, zugleich aber dementiert, dabei das Einkaufszentrum getroffen zu haben. Vielmehr hätten die «Hochpräzisionsraketen» Hallen mit Munition und Waffen aus den USA und Europa getroffen. Erst deren Explosion habe das Feuer in dem «nicht mehr betriebenen Einkaufszentrum» ausgelöst, behauptete Armeesprecher Igor Konaschenkow.
Derweil gehen die Kämpfe im Osten des Landes mit unverminderter Härte weiter. Beide Seiten versuchen derzeit die Kontrolle über eine wichtige Versorgungsstrasse für die schwer umkämpfte ehemalige Grossstadt Lyssytschansk zu gewinnen. Einen russischen Vorstoss auf die Ortschaft Spirne entlang dieser Strasse hat das ukrainische Militär nach eigenen Angaben zurückgeschlagen.
Lyssytschansk werde dabei weiter ständig mit Mörsern und anderer Artillerie beschossen, teilte der Generalstab mit. Russische Truppen stehen bereits am Südrand der Stadt. Vertreter der prorussischen Separatisten berichteten zudem von Kämpfen bereits im Stadtgebiet. Die Verbindungen in die benachbarte Region Donezk stehen seit Tagen unter ständigem russischen Beschuss.
Deutschland und die Niederlande haben entschieden, der Ukraine sechs weitere Modelle der Panzerhaubitze 2000 zu liefern. Das sagten die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und ihre niederländische Amtskollegin Kasja Ollongren am Dienstag am Rande des Nato-Gipfels in Madrid. Damit wird die Ukraine nun insgesamt 18 Stück des Waffensystems erhalten - eine ausreichend grosse Zahl für ein komplettes Artilleriebataillon. Knapp vier Monate nach Kriegsbeginn waren in der vergangenen Woche mit diesen Artilleriegeschützen die ersten schweren Waffen aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen.
Für Moskau ebenfalls unangenehm: Der Nato-Beitritt von Schweden und Finnland rückt näher. Nachdem sich die Türkei zuletzt noch vehement gegen die Erweiterung der Militärallianz um die nordischen Staaten ausgesprochen hatte, lenkte sie nun ein. «Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir jetzt ein Abkommen haben, das Finnland und Schweden den Weg zum Nato-Beitritt ebnet», sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstagabend nach einem Treffen mit Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson, dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö und seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan. Dies sende die deutliche Botschaft an Russlands Präsidenten Wladimir Putin, dass die Tür der Nato offen ist.
Kurz vor dem Nato-Gipfel hat Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda zudem erneut auf eine stärkere Nato-Präsenz im östlichen Bündnisgebiet gepocht. Angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine müsse bei dem Spitzentreffen in Madrid der Übergang von Abschreckung zur Vorwärtsverteidigung vollzogen werden, sagte Nauseda der Deutschen Presse-Agentur in einem Interview in Vilnius.
Die von der Nato angekündigte drastische Aufstockung der schnellen Einsatztruppe wird die deutsche Bundeswehr nach Einschätzung der Wehrbeauftragten des Bundestages, Eva Högl, schwer belasten. «Absehbar ist, dass die Anforderungen an Deutschland steigen werden. Für die Bundeswehr bedeutet das eine enorme Herausforderung und erfordert grosse Anstrengungen hinsichtlich Personal, Material, Ausrüstung und Infrastruktur», sagte Högl der «Augsburger Allgemeinen». Die Nato will vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs die Zahl ihrer schnellen Eingreifkräfte von rund 40'000 auf mehr als 300'000 erhöhen.
In Madrid beginnt am Mittwoch offiziell der Nato-Gipfel, der ganz im Zeichen des russischen Kriegs gegen die Ukraine steht. Bei dem zweitägigen Gipfel will die Militärallianz unter anderem die Stärkung ihrer Ostflanke und ein neues strategisches Konzept beschliessen.
Putin reist derweil im Rahmen seiner ersten Auslandsreise nach Kriegsbeginn nach Turkmenistan in Zentralasien. Dort treffen sich die Staatschefs der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres zu einem Regionalgipfel - neben Russland sind dies der Iran sowie die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Turkmenistan, Aserbaidschan. (sda/dpa)