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Hilfsappelle an Putin: Immer mehr Heizungen fallen in Russland aus

Verzweifelte Hilfsappelle an Putin: Immer mehr Heizungen fallen in Russland aus

Ironie der Geschichte: Mit Dauerangriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur will der Kreml seinem Erzfeind im Winter die Lebensgrundlagen entziehen. Nun bersten wegen der Kältewelle quer durch Russland die Heizungsrohre.
11.01.2024, 11:2511.01.2024, 11:25
Inna Hartwich, Moskau / ch media
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epa11067692 Russian women chat outside during snowy weather Moscow, Russia 10 January 2024. The temperatures reached about -13 degrees Celsius in the Moscow region. EPA/MAXIM SHIPENKOV
Zwei Moskauer Rentnerinnen halten auf einer Parkbank mitten im Schnee ein Schwätzchen.Bild: keystone

Sie haben sich warm angezogen, haben sich auf der Treppe ihres Hauses in Reih und Glied aufgestellt. Rechts sind die Briefkästen zu sehen, hinten die grünliche Wand. Wenn sie sprechen, kommen Nebelwölkchen aus ihren Mündern. Es ist kalt in Woskressensk, knapp 80 Kilometer südöstlich von Moskau.

So kalt wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr. Für ganz Russland melden die Meteorologen eine anomale Kälte für Januar, durchschnittlich bis zu 15 Grad kälter als sonst in dieser Jahreszeit. In Moskau und Moskauer Umland sind es derzeit zwischen minus 20 und minus 30 Grad. Das bringt die Infrastruktur an den Rand ihres Funktionierens, in knapp zehn Regionen des Landes zeigt sich ihr Verfall: Wasserleitungen bersten, Heizungen bleiben kalt, der Strom fällt aus.

In manchen Wohnungen funktioniert auch das Gas nicht. Die Menschen laufen in dicken Jacken und Mützen zu Hause, machen Feuer vor der Haustür. Die Treppenhäuser sind voller Eisschichten, Freiwillige verteilen Federbetten und bringen etwas Warmes zu essen. Manche, bei denen geheizt wird in der Wohnung, bieten Schlafplätze für Bedürftige an. Schulen schliessen, Krankenhäuser werfen ihre Generatoren an. In den sozialen Netzwerken häufen sich die Hilferufe, ähnlich dem aus Woskressensk bei Moskau.

«6 Grad sind es in meinem Schlafzimmer», schimpft eine ältere Frau, die zunächst für ihr ganzes Haus spricht, 14 Stockwerke hoch. «Wir leben nicht, wir existieren. Wir erfrieren! Schauen Sie uns an! Tun Sie etwas! Wir haben Kinder, die krank werden! Wir werden krank! Unsere Katzen und Hunde zittern! Man sagt uns, alles sei unter Kontrolle. Getan wird aber nichts. Helfen Sie uns! Wladimir Wladimirowitsch, sehen Sie doch, es wird nur schlimmer!»

Und siehe da, der russische Präsident befasst sich - natürlich öffentlichkeitswirksam - mit dem Problem der vereisten Wohnungen. Gouverneure der entsprechenden Regionen müssen ihre Berichte bei ihm abliefern, Putin verspricht Besserung, am Tag darauf zeigt das Staatsfernsehen, wie Heizungen wieder anspringen, wie das Ermittlungskomitee die Vorgesetzten der Heizwerke und die Vizegouverneure der Regionen zu Befragungen mitnimmt.

Schlechtes Timing, die Wahlen stehen vor der Tür

Putin kümmert sich für gewöhnlich ungern um «niedere» Angelegenheiten, überlässt Schwierigkeiten mit der Versorgung, der Infrastruktur, den hohen Preisen seiner Regierung. Er gibt sich gern als der grosse Aussenpolitiker, der das Land vor bösen Feinden drumherum rettet. Was sind da schon kalte Heizungen? Doch im März will er mit grossem Zuspruch der Bevölkerung zum sechsten Mal im Amt bestätigt werden.

Da kommt es schlecht, wenn die Bevölkerung bibbert und unzufrieden die «Willkürherrschaft» anprangert, zumal so nah an Moskau. Es sind vor allem die Menschen in den Städten rund um die Hauptstadt, die in den Neujahrsferien – in Russland dauerten sie bis 9. Januar – froren. Eine Wärmeleitung bei Podolsk, südlich von Moskau, war Anfang Januar gerissen und konnte mehrere Tage lang nicht repariert werden. Gleiche Bilder kamen aus Nowosibirsk.

Aber auch bei Tscheljabinsk am Ural, in Rostow am Don an der russisch-ukrainischen Grenze, in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, blieben die Menschen ohne Heizung, ohne Warmwasser, manche ohne Strom.

Das Problem der maroden Infrastruktur rührt noch aus der Sowjetzeit. Die von Korrosion befallenen Eisenrohre werden zwar nach und nach durch robustere Plastikrohre ersetzt, aber zu langsam. «Auch in zwei Jahrzehnten alles zu erneuern, ist unmöglich», heisst es selbst aus dem Kreml. Zudem wächst die Hauptstadt rasant. Am Rande entstehen neue Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Stadien. Angeschlossen werden sie an alte Rohre und Stromnetze.

Der Belastung bei tiefen Temperaturen halten diese nicht stand und bersten. Werden elektrische Geräte eingeschaltet, um für Wärme in den Häusern zu sorgen – zumal in den Ferien, wenn die meisten Menschen zu Hause bleiben – bricht auch schnell das Stromnetz zusammen. «Wir wollen Wärme!», schreien die Hausbewohner von Woskressensk und reden am Ende ihres Hilferufs durcheinander. «Wir haben Angst um unser Leben! Es ist unerträglich!» (bzbasel.ch)

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115 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Peter Vogel
11.01.2024 11:35registriert Juni 2020
Die ganzen staatlichen Gelder fliessen zurzeit halt in die Produktion von Kriegsgerät. Die Russische Bevölkerung scheint das grösstenteils gut zu finden, also muss man halt frieren. Ich wünsche viel Spass dabei.
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Kommentar*innen
11.01.2024 11:46registriert Juni 2018
Die Infrastruktur die nicht unterhalten wird. Ja wohin wohl das Geld fliesst? 🙄

Es fällt mir unsäglich schwer Mitgefühl zu entwickeln, wenn ich mitbekomme, wie Putin von so vielen „einfachen Bürgern“ verehrt und gefeiert wird, der Krieg in der Ukraine gar unterstützt oder wenigstens geduldet wird.
1966
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Die Geschichte wiederholt sich...
11.01.2024 11:39registriert Februar 2022
Es ist einfach nur erschreckend zu sehen, wie Putin auch sein eigenes Volk terrorisiert. Ich meinte doch, es laufe so gut mit der russischen Wirtschaft? Sagen das die Putin-Fans nicht die ganze Zeit? Was bitte soll das sein? Das Geld für einen unnötigen Krieg aus dem Fenster werfen und sein Volk verfrieren lassen? Was müssen die Russen noch erleben, dass sie endlich erwachen und aufstehen?

Wahrscheinlich noch viel. Denn auch in der Sowjetunion gab es kaum Aufstände. Auch unter den Zaren nicht. Die Russen sind sich gewohnt, von ihren Führern bis zum Tode ausgenommen und ausgenützt zu werden.
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